Gymnasium:Intelligenz - nicht der einzige Faktor für Erfolg

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Erst kürzlich wurde in einem SZ-Kommentar ein Intelligenztest als Zugangsverfahren fürs Gymnasium vorgeschlagen. Leserinnen und Leser wenden sich dagegen - und begründen das detailliert.

"Was im Kopf steckt" vom 13./14. Mai:

Auch Hochbegabte scheitern

Dass das aktuelle Übertrittsverfahren weder zeitgemäß noch sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Der Vorschlag, den Christian Weber in seinem Kommentar "Was im Kopf steckt" unterbreitet, nämlich als Zugangsvoraussetzung für den Übertritt Intelligenztests durchzuführen und nur die 20 Prozent Besten übertreten zu lassen, geht allerdings in die falsche Richtung.

1. Weber beklagt, dass Noten erschummelt, mit viel Druck und Nachhilfe erlangt und einklagbar sind. Gleiches gilt auch für Testergebnisse.

2. Kein Intelligenztest liefert eine exakte Zahl als Ergebnis, die dann den wahren Wert des Intelligenzquotienten wiedergibt. Jeder Test liefert nur ein Intervall, in dem mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit die wahre Intelligenz des Probanden liegt. Das macht eine Grenzziehung fast unmöglich, von anderen Störfaktoren wie Tagesform des Probanden, Durchführung durch den Testleiter usw. abgesehen.

3. Ein kulturfreier Intelligenztest misst vor allem die fluide Intelligenz, also den angeborenen Anteil, unabhängig von Umwelteinflüssen. Allerdings ist ein Kind mit zehn Jahren keine Tabula rasa, sondern hat zehn Jahre Lernerfahrungen hinter sich, die seine Intelligenz ebenso prägen.

4. Darüber hinaus ist die Intelligenz eben nur ein Faktor für den Schulerfolg, wenn auch ein wichtiger. Aber es kommen noch genügend andere wichtige Faktoren dazu: Motivation, Frustrationstoleranz, Vorwissen, alleinerziehende Eltern, Berufstätigkeit/Bildungsaffinität der Eltern, Scheidung, Todesfall in der Familie, Drogenkonsum usw. All dies spielt eine gewichtige Rolle, und manches davon lässt sich im Alter von zehn Jahren noch gar nicht vorhersagen. Auch die Gehirnentwicklung ist mit zehn Jahren noch nicht abgeschlossen.

5. Selbst wenn nur 20 Prozent eines Jahrganges übertreten, kann niemand garantieren, dass diese auch alle das Gymnasium erfolgreich abschließen. Schließlich gibt es schon derzeit hochintelligente Kinder, die im Gymnasium scheitern, so wie es auch nicht hochintelligente Kinder gibt, die das Gymnasium schaffen. Vielleicht erhalten diese keine Auszeichnung für das beste Abitur und heimsen sie keinen Nobelpreis ein. Aber sie haben das Abitur, studieren (oder auch nicht) und arbeiten zufrieden und auch zum Wohle der Gesellschaft.

Überdies geht der Autor offenbar davon aus, dass unter dem derzeitigen Übertrittsverfahren in Bayern vor allem diejenigen leiden, die den Schnitt fürs Gymnasium nicht oder nur knapp und mit viel Aufwand erreichen. Das stimmt nicht. Oftmals leiden auch die Kinder, die den Übertritt problemlos meistern. Sinnvoll wäre es daher, das derzeit in Bayern praktizierte Übertrittsverfahren abzuschaffen und den Eltern nach einer Empfehlung der Grundschule die Entscheidung zu überlassen. Roland Kirschner, Landshut, Schulpsychologe am Gymnasium

Unselige Geschichte

Die Behauptung, das intellektuelle Potenzial des Menschen sei "zu großen Teilen" ein Produkt der Biologie, ist völlig aus der Luft gegriffen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der man die Rolle der Gene bei der Ausprägung der Test-Intelligenz eines Individuums quantifizieren könnte. IQ-Tests messen nicht das biologische Potenzial. Die Ergebnisse von IQ-Tests sind ebenso wie Schulnoten in nicht quantifizierbarer Weise davon abhängig, ob man gefördert wurde (oder gar in den Genuss von Nachhilfe und anderen "unfairen Vorteilen" gekommen ist). Insoweit wäre es egal, ob man IQ-Tests oder Schulnoten als Kriterium für den Übertritt in weiterführende Schulen heranzieht - beides ist gleich ungerecht, subjektiv, unwissenschaftlich. Doch die Intelligenzforschung hat eine unselige, noch immer nachwirkende Geschichte. IQ-Tests sind dazu benutzt worden, soziale Unterschiede zu biologisieren.

Was brächte es, wenn der IQ über die Schulwahl entscheidet? Kinder von Arbeitsmigranten hätten noch immer schlechtere Startchancen als Kinder von Akademikern. Nur hätte man diese Unterschiede auf elegante Weise biologisiert. Mit dem Nebeneffekt, dass man sich um Förderung keine Gedanken mehr machen müsste - und das Problem bestehender Ungleichheiten "gelöst" hätte. Martin Niggeschmidt, Hamburg

Stress und Stigma

Zuallererst sollte man sich einmal vorstellen, wie es auf deutschen Schulhöfen zugehen würde, wenn alle über ihren IQ-Wert Bescheid wüssten und über den ihrer Mitschüler - und somit einen "Beweis" für den jeweiligen Intelligenzgrad in Händen hätten. Der psychische Stress, der bei den Kindern entsteht, die bei ihrem IQ-Test möglichst gut abschneiden sollen, um die Qualifikation für das Gymnasium zu erhalten, wird mindestens so groß sein wie derzeit vor dem "Grundschulabitur" und wird sich sicher nicht förderlich auf ihr Testergebnis auswirken, das daher keineswegs das wirkliche "intellektuelle Potenzial" des Kindes darstellen muss. Motivation, Fleiß und Disziplin, die beim IQ-Test keine Rolle spielen, sind jedoch keinesfalls zu unterschätzende Faktoren, was das schulische Fortkommen angeht. Soll man Kindern mit diesen Qualitäten, deren IQ unter einem bestimmen Wert liegt (wer legt diesen dann eigentlich fest?) von vornherein absprechen, es bis zum Abitur zu schaffen?

In der Schule braucht es sicher keinen weiteren Test, sondern vor allem ausreichend pädagogisches Personal, das genügend (bezahlte!) Zeit zur Verfügung gestellt bekommt, um individueller auf die Schüler einzugehen - egal auf welcher Schule.

Übrigens: Auch heute schon sind "Migrantenkinder" in nicht unerheblicher Zahl an Gymnasien zu finden. Und zwar ganz ohne vorherigen IQ-Test, sondern schlicht und ergreifend aufgrund ihrer guten Noten. Dorit Bircks, München

Kritischer

Bildung junger Menschen kann nicht nur dann gestattet und der Gesellschaft nützlich sein, wenn der Intelligenzquotient (IQ) jenseits von 130 liegt. Eine gute Bildung und Ausbildung auf einer Universität hilft der Gesellschaft, da gebildete Menschen rattenfängerische Politik eher erkennen, sie oft kritischer sind und die komplexere Arbeitswelt mehr akademische "Wasserträger" braucht. Es spricht ja nichts dagegen, dass Menschen mit hohen IQ-Werten über einen IQ-Check Zugang zu Studienplätzen für Hochbegabte erhalten. Eine frühe "Kappung" zu Bildung halte ich jedoch für problematisch. Zudem darf ich auf den Samstagsessay von Ludger Wößmann verweisen, der in "Lehre, Meister, Studium: Bildung lohnt sich" vom 13./14. Mai schreibt, dass die gesamte Volkswirtschaft von einer besseren Bildung profitiert. Dr. Thomas Faißt, Eggenstein

© SZ vom 24.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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