Geschlechtliche Selbstbestimmung:Von Tatsachen, Ungerechtigkeiten und Reformwünschen

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Jeder soll selbst entscheiden, ob er oder sie Frau oder Mann ist. Entscheidungen, die nicht leichtfertig getroffen werden dürfen, meinen SZ-Leser und -Leserinnen.

Demonstranten fordern 2018 einen alternativen Geschlechtseintrag im Geburtsregister. (Foto: imago/epd)

Zu "Noch mal für alle" vom 24. Februar:

Zu kurz gegriffen

Ronen Steinke verlangt, dass jeder sein Geschlecht selber bestimmen kann und es als Bürgerrecht gegebenenfalls beim Verfassungsgericht einklagen kann. Eine glorreiche Idee! Aber ein bisschen kurz gegriffen, denn wenn schon das Geschlecht unabhängig von der DNA gewählt wird, dann doch auch alles andere: Es muss also meine Entscheidung einklagbar sein, dass ich 1,85 Meter groß bin statt 1,75 Meter, dass ich 60 Kilo wiege statt 80, dass ich braune Augen habe statt graue, dass ich blond bin statt schwarz und vieles mehr. Und dann sollte vielleicht jeder eine Visitenkarte auf Hemd oder Bluse tragen, auf der zu lesen ist, wie er sich entschieden hat und was jeder andere zu akzeptieren hat (sonst droht Verfassungsklage). So könnte jeder zufrieden sein.

Dr. Dieter Spies, Egmating

"Ich fühle mich als Panda"

Jeder soll selbst entscheiden, ob er/sie Mann oder Frau ist? Könnte man das noch weiter fassen? Ich fühle mich als Panda - das sind die niedlichsten Tiere der Welt. Wer mich nicht anhimmelt und vergöttert, wenn ich in einem Pandakostüm aus Plüsch rumliege, der tritt meine Pandarechte mit Füßen. Ich kann zwar keinen Bambus verdauen, aber das sind ganz lästige biologische Fisseligkeiten, die kann man getrost vernachlässigen. Gebt mir Schokolade statt Bambus!

Meinetwegen können sich Leute nach Belieben verkleiden. Aber ein 1,90 Meter großer Mann mit Penis, der in einem Damenschwimmteam antritt, ist kein Spaß. Wie lange haben Frauen für ihre Beteiligung an Politik, Gesellschaft, Sport gekämpft? Seit wann dürfen Frauen politische Ämter bekleiden? Seit wann offiziell als Team an Fußballwettbewerben teilnehmen? Seit wann dürfen Frauen erwerbstätig sein ohne Erlaubnis ihres Ehemannes? Solange das alles nicht möglich war, hätte sich doch kein Mann freiwillig mit schlecht sitzender Perücke und absurdem Make-up als Frau ausgegeben.

Ein als Junge aufgewachsener Mann wird physisch jeder Sportlerin überlegen sein, Venus und Serena Williams wurden von Karsten Braasch, einem Mann, der auf Platz 203 der Tennisweltrangliste steht, in einem inoffiziellen Match besiegt. Die unter 15-jährigen Jungen der Dallas Cowboys besiegten 2017 das US-Fußball-Damenteam, weil sie physisch stärker waren. Frauen, die sich etwa um ein Sportstipendium bewerben, werden immer gegen Männer verlieren, die sich als Frauen "fühlen". Zu Recht gibt es keine Wettbewerbe zwischen erwachsenen Männern und minderjährigen Jungen, das Ergebnis wäre vorher klar, der Protest berechtigt. Aber Männer in Frauenkleidern sollen gleichberechtigt gegen Frauen antreten? Die Frauen sollen Verständnis zeigen und "Transpersonen" vorlassen? Das ist nicht fair. Wenn die verkleideten Männer Sportwettbewerbe ausführen wollen, dann bitte mit anderen Menschen, die sich so definieren.

Wenn es vor Wahlen Listenplätze für Frauen gibt, sollten die nicht an Männer gehen, die schon seit Jahrhunderten mit Vorteil antreten. Ein Mann, der als Vergewaltiger verurteilt wurde, entdeckt, dass er Frau ist, und darf seine Strafe im Frauengefängnis absitzen, das ist in den USA und Großbritannien mehr als einmal passiert. Wenn eine Frau Schutz sucht im Frauenhaus, soll sie dort auf ihren gewalttätigen Ex treffen, der sich als Frau verkleidet auch dorthin begibt? Ein Zweierzimmer im Krankenhaus, belegt von einer durch Operation oder Krankheit geschwächten Frau und einem 2-Meter-Mann? Ein Gremium schafft es nicht, die geforderte Frauenquote zu erfüllen? Kein Problem, Herr Huber heißt ab sofort Frau Huber. Das sind die Folgen, wenn es reicht, sich einfach als Frau zu bezeichnen. Die gebürtigen Frauen haben mal wieder die Verliererkarte gezogen.

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind und ein wirklich schwieriges Leben führen. Aber das sind wenige Ausnahmen, die jetzt von Trittbrettfahrern mit unlauteren Motiven benutzt werden. Die Biologie lässt sich nicht einfach leugnen, die Chromosomen bleiben ein Leben lang dieselben. Wenn "Tessa" Ganserer Prostatakrebs entwickelt, was ich ihm/ihr wirklich nicht wünsche, wird die Gynäkologin nicht weiterhelfen können. Dann muss man den Tatsachen ins Auge schauen und in die andrologische Abteilung gehen. Aber von Zervixkrebs wird er/sie verschont bleiben.

Christine Müller, Glienicke

Neue Organisation

Der Grundaussage, dass Menschen ihr Geschlecht frei bestimmen sollten, kann ich nur zustimmen. Schade, dass Ronen Steinke nicht auf die Einwände der Gegner eingeht. Ich sage nicht, dass Probleme mit Männern, die sich mit dem Trick des Geschlechtswechsels in Gefängnisse (wie in England) oder Frauenhäuser einschleichen, oder die Umkleideraum-Frage im Schwimmbad unlösbar seien. Offenbar überlassen viele die Diskussion darüber aber den Transgender-Gegnern, die nicht einmal den einfachen Wunsch achten, mit einem bestimmten Namen oder grammatischen Geschlecht bezeichnet zu werden, was nun wirklich keiner Frau etwas wegnimmt.

Schafft noch mehr organisatorische Unterschiede zwischen Männern und Frauen ab! Neutrale Toiletten wären auch für Behinderte und Demente mit ihren Begleitpersonen nützlich. Schwimmbäder haben schon vor Jahren angefangen, neutrale Einzelumkleiden zu bauen. Bei Duschen: Auswahl, ob mit oder ohne Vorhang.

Die Frauenquoten könnten tatsächlich in ein Spannungsverhältnis zu Transrechten geraten beziehungsweise zu absurden Situationen führen. Daher: Bekämpfung der Ursachen für ungleiche Verteilung in Führungspositionen statt der Symptome.

Henning Fritsches, Rothenburg

Ideologie auf Kosten der Kinder

Was für ein Aufmacher, an dem Tag, als Putins Panzer begannen, in der Ukraine die Freiheit niederzuwalzen. Dies wäre wahrlich ein Tag gewesen, um sich zu besinnen auf den elementaren Kern der Freiheit und ihre existenzielle Bedeutung für unser Leben und unsere Gesellschaft. Stattdessen werden alle, die für die Freiheit kämpfen oder gar ihr Leben gelassen haben, beleidigt: Ausgerechnet an diesem Tag wird eine dekadente Karikatur des Freiheitsbegriffs zum Top-Thema des gesellschaftspolitischen Diskurses geadelt.

Der rücksichtslose Versuch, jede individualistische Verwirrung zu einer neuen gesellschaftlichen Norm der Freiheit umzudeuten, rührt an die Grundlagen eines gesellschaftlichen Miteinanders. Individuelle Befindlichkeiten und Gefühle sind privat und sollten es bleiben. Wenn sie so umgedeutet werden, dass sie in die Freiheits- und Schutzräume anderer Menschen eindringen, gilt es, klare Grenzen aufzuzeigen. Was haben gefühlte "Frauen" mit Penis in Schutzräumen wirklicher Frauen oder etwa im weiblichen Sport zu suchen?

Und wie steht der Autor zur Ermutigung ungefestigter Mädchen und Jungen in der Pubertät, mit vermeintlicher Geschlechtsumwandlung den eigenen Körper zu zerstören? Wer sich an die Phasen verletzlicher pubertärer Selbstfindung im eigenen Leben erinnert, kann nur entsetzt sein über die Nonchalance, mit der Transgenderideologen irreversible hormonelle "Therapien" und chirurgische Verstümmelungen propagieren, auch gegen den Willen der Eltern, alles im Namen der Freiheit und auf Kosten der Solidargemeinschaft der Krankenkassen. Interessierte Lobbyisten in Pharmaindustrie, Anwalt- und Ärzteschaft haben offenbar bereits Witterung aufgenommen, jetzt gilt es wohl nur noch, die Nachfrage zu fördern.

Das wahre Gesicht der neuen Transideologie zeigt sich im Umgang mit Andersdenkenden: Die Versuche, abweichende Meinungen mittels erbarmungsloser Einschüchterung und gesellschaftlicher Ächtung auszuschalten - man denke nur an J. K. Rowling und Kathleen Stock -, sind Zeugnis aggressiver Intoleranz von Feinden der Freiheit. Wer meinte, solch irrationale Aggressivität nur in einem Mob von Trump-Jüngern finden zu können, hat sich leider geirrt. Teile der "progressiven" Kräfte westlicher Gesellschaften stecken bereits tief in einem ideologischen Sumpf, wo es für Andersdenkende keinen Raum mehr gibt, Freiheit schon gar nicht.

Dr. Christoph Müller, Berlin

Gutachtenpraxis reformieren

Wenn die Politik nicht begreife, dass die Selbstbestimmung des Geschlechts ein Bürgerrecht sei, müsse "das Bundesverfassungsgericht ran", so Ronen Steinke. Die Sache ist nur die: Das Bundesverfassungsgericht war da schon dran. Zwei Mal hat Karlsruhe erklärt, dass die existierende Gutachtenpflicht vor einer Personenstandsänderung von der Verfassung gedeckt ist. 2011 erklärten die Richter, dass chirurgische Maßnahmen nicht mehr Voraussetzung für die Änderung des Personenstandes von männlich zu weiblich oder umgekehrt sein dürfen. Es müsse aber ein Gutachten eine dreijährige Konsistenz des Transitionswunsches und die sehr wahrscheinliche Irreversibilität dieses Wunsches bestätigen. 2017 hat Karlsruhe dieses Urteil noch einmal bestätigt.

Das Bundesverfassungsgericht ist der Ansicht, dass die Betroffenen ihren Transitionswunsch gründlich überprüfen sollten: Ein "längerer diagnostisch-therapeutischer Prozess" sei sinnvoll, weil "der Wunsch nach einer "Geschlechtsumwandlung" auch eine Lösungsschablone für psychotische Störungen, Unbehagen mit etablierten Geschlechtsrollenbildern oder für die Ablehnung einer homosexuellen Orientierung sein kann". Das gilt heute mehr denn je, denn die Zahl der Jugendlichen, insbesondere der pubertierenden Mädchen mit Transitionswunsch explodiert in der gesamten westlichen Welt. Es ist sicher nicht im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes, dass diese Mädchen mit einem einfachen Gang zum Standesamt ihr Geschlecht wechseln können.

In einem Entwurf zu einem Selbstbestimmungsgesetz vom Sommer 2021 wollten die Grünen das Recht auf geschlechtsangleichende Operationen mit der Personenstandsänderung ab dem 14. Lebensjahr verbinden. Gerade ist die Leitlinienkommission der ärztlichen Fachgesellschaften dabei, die Altersgrenzen für Hormonbehandlungen und OPs weiter abzusenken, sodass sich demnächst 15-jährige Mädchen ihre Brüste amputieren lassen können.

Dass die aktuelle Gutachtenpraxis reformiert werden sollte, steht außer Frage. Das Verfahren ist nicht standardisiert, die Praxis schwankt zwischen entwürdigenden Fragen, die mit der Sache nichts zu tun haben, einerseits - und Gutachtern, die nach einem kurzen Gespräch einen Vordruck aushändigen, andererseits. Es wäre also geboten, das Verfahren zu vereinheitlichen - oder es aufzugeben und durch einen therapeutischen Prozess zu ersetzen, in dem die Betroffenen ihren Wunsch ernsthaft anschauen - und auch hinterfragen können.

Die nach neuesten Studien aktuelle Zahl der sogenannten Detransitionierer liegt nämlich nicht mehr - wie 2011 vom Bundesverfassungsgericht angegeben - bei 0,4 Prozent, sondern bei 13 Prozent. Das heißt: Jeder siebte transitionierte Mensch geht zurück ins alte Geschlecht. Mein Rat: Sprechen Sie mit Detransitionierern, denen Therapeuten innerhalb einer halben Stunde die Diagnose "Transsexualität" gestellt haben - und die heute mit amputierten Brüsten und entfernten Eierstöcken dastehen und sich sehnlichst wünschen, dass ihr Transitionswunsch stärker hinterfragt worden wäre.

Die "Rechte und Pflichten", die mit der Zuordnung zu einem Geschlecht verbunden sind, mögen sich an einigen Stellen auflösen. Eins aber bleibt: das Recht von Frauen auf geschützte Räume. Frauen, die jahrelang vom Mann oder Partner geschlagen und vergewaltigt wurden, ist es nicht zumutbar, in einem Frauenhaus gemeinsam mit einem Mann, der sich "als Frau definiert", zusammen untergebracht zu werden. In den USA wurde Frauenhäusern, die das verweigert haben, bereits die finanzielle Förderung entzogen. Um solche Rechte geht es.

Wenn also das Bundesverfassungsgericht "noch mal ran" müsste, ist es sehr wahrscheinlich, dass es bei seinen Entscheidungen von 2011 und 2017 bliebe. Denn die Gründe, von Betroffenen zu verlangen, sich mit den Gründen ihres Transitionswunsches zu beschäftigen, sind eher mehr geworden.

Chantal Louis, Köln, Redakteurin bei Emma

© SZ vom 23.03.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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