Documenta politisch:Von der Kunst, Gemeinschaft zu erlernen

Lesezeit: 2 min

Viele Hände, die zusammen an einer besseren Welt arbeiten? So zumindest ließe sich das deuten. (Foto: documenta fifteen 2022)

Ideenmesse für den Systemwechsel: Kassel wird zum Schauplatz für Künstler-Kollektive. Doch verarmt die Kraft und Vielfalt der Kunst nicht dramatisch, wenn sie einem aufklärerischen Interesse untergeordnet wird?

Von Till Briegleb

Bevor die Briten das Gebiet des heutigen Kenias besetzten, organisierten die Kikuyu ihr Wirtschaftsleben nach Regeln von Gemeinschaft und Solidarität. Der größte der Stämme, die in dem künstlichen Grenzgebilde der kolonialen Besatzung lebten, nutzte Land als öffentliche Ressource und sorgte dafür, dass auch die ärmsten seiner Mitglieder genug Vieh und Anbaufläche erhielten, um eine Familie zu ernähren. Doch mit dem Regime der fremden Weißen, das über 75 Jahre alle Einheimischen mit großer Brutalität dazu zwang, auf Einzelparzellen Güter für europäische Absatzmärkte zu produzieren, verlosch auch in Kenia das Wissen von einer kollektiven Wirtschaftsform.

Solche Geschichten kultureller Amnesie, wie sie sich in fast allen Ländern des globalen Südens abgespielt haben, bilden den gedanklichen Hintergrund, vor dem das aktuelle Programm der Documenta 15 gelesen werden muss. Das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, das diese Ausgabe des größten Kunstfestivals der Welt kuratiert hat, will die angebliche Alternativlosigkeit kapitalistischer Gesellschaftsnormen nicht hinnehmen. Statt ihr Augenmerk auf die Präsentation namhafter Kunstakteure zu richten, wie es Tradition der Documenta ist, hat die Gruppe deshalb Kollektive nach Kassel eingeladen, und zwar solche, die an gemeinschaftlichen Formen des Zusammenlebens interessiert sind.

Die meisten dieser Gruppen reisen aus Ländern mit kolonialer Vergangenheit an, in denen das westliche Besitzdenken besonders aggressive Formen angenommen hat, auch nach dem Ende der Kolonialzeit. Und in denen als Reaktion auf den grassierenden Egoismus Ideen von gerechter Teilhabe große Aktualität bekommen. Wie mittlerweile auch in Europa, wo vor dem Hintergrund globaler Krisen die Empfänglichkeit für Fairness und gegenseitige Rücksichtnahme wächst. Versagen doch die Verfechter der Idee vom ewigen Wirtschaftswachstum zunehmend dabei, die von ihnen verursachten Probleme ökologischer, politischer und sozialer Natur auch zu lösen.

Um diesen Epochenbruch zu verstehen und mitzugestalten, sollen die Besucher der Documenta 15 in Kassel zur Schule gehen. Im traditionellen Herzstück der Schau, dem Fridericianum, gibt es diesmal kein Kunstwerk zu sehen. Stattdessen wird der älteste Museumsbau Europas für die 100 Tage der Documenta zur "Fridskul" umgetauft. Es wird ein Schlafsaal und eine Küche einziehen, ein Kindergarten und häusliche Gegenstände, die es den Kollektiven erlauben, hier ihren "Lebensmittelpunkt" einzurichten. Und aus diesem Sommercamp mit Hippie-Charme soll dann eine neue Bildungseinrichtung erwachsen, so wie es Joseph Beuys 1977 schon auf der Documenta 6 mit seiner "Free International University" versucht hatte. In Form von Workshops, Seminaren und durch informellen Austausch mit den Kulturaktivistinnen und -aktivisten möchte diese Ideenmesse Anschauungsmaterial zum Systemwechsel liefern.

Kollektive statt Künstler? Oder doch Künstler-Kollektiv? Die Gruppe Ruangrupa bei einem Workshop mit dem künstlerischen Team. (Foto: Nicolas Wefers)

Auch an den 31 anderen Orten in der hessischen Stadt, die von den Kollektiven bespielt werden, hat kritische Reflexion von kulturellen Verhaltensweisen Vorrang vor ästhetischer Produktion. Doch diese zu erwartende Indienstnahme eines Kunstfestivals für politische Anliegen weckt natürlich auch Zweifel. Verarmt die Kraft und Vielfalt der Kunst nicht vielleicht dramatisch, wenn sie einem aufklärerischen Interesse untergeordnet wird, so wichtig diese Inhalte auch gerade erscheinen mögen?

Zwischen Beuys, der alles in der Kunst politisch fand, und Christo, der jede zweckgebundene Kunst als "Propaganda" bezeichnete, lag auch bei den früheren Ausgaben eine weites Feld für die Frage, wie mit der Beziehung der beiden Aktionsfelder umzugehen sei. Das mündete bei der letzten Documenta in Kassel und Athen 2017 in einer Schau, die stark von den anschwellenden Identitätsdebatten geprägt wurde. Und diese politische Absichtskunst sorgte oft für ermüdende Einseitigkeit, obwohl es damals noch sehr viele Kunstwerke zu sehen gab.

Die freundliche Einladung von Ruangrupa, wichtigere Dinge als Bilder, Videos und Installationen zu besprechen, und diese lebendige Debatte über eine bessere Zukunft dann selbst zur Kunst zu erklären, geht aber einen großen Schritt weiter. Sie könnte die Documenta als Ganzes zu einer Kolonie des Aktivismus machen. Dann wird es die Aufgabe der nächsten Ausgabe sein, an die Stärke der individuellen Gestaltungskraft zu erinnern, die gerade so geschmäht wird, als sei sie ein Schaden, den es zu beheben gelte.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: