Bundesverfassungsgericht:Umstrittenes Urteil zur Bundesnotbremse

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So wie Heribert Prantl sind viele Leser nicht einverstanden mit dem, was die Richter entschieden haben. Andere sind froh, dass sie sich nicht zu "Virologen" erhoben haben oder gar "Ersatzgesetzgebern".

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. (Foto: dpa)

Zu "Mutlose Richter" vom 4./5. Dezember:

Prinzipienreiter

Heribert Prantl reibt sich an der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass Grundrechte eingeschränkt werden dürfen, wenn in der Pandemie die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen anders nicht geschützt werden können. Das oberste Gericht hätte, so meint Prantl, stattdessen "den Gesetzgeber auffordern müssen, die Unkenntnis über die Verbreitung des Virus zu verringern und empirische Forschung dazu in Auftrag zu geben". Er ist der Meinung, die Wissenschaftler bräuchten eine Aufforderung des Parlaments, das Verhalten des Virus zu erforschen. Glücklicherweise haben die Virologen und Epidemiologen weltweit nicht auf das oberste Gericht in Deutschland gewartet, sondern nach Ausbruch der Pandemie sofort empirische Forschung betrieben, um den verantwortlichen Politikern zu ermöglichen, auf wissenschaftlicher Basis auf die außergewöhnlich große Gefahr zu reagieren.

Herr Prantl verlangt von den Richtern des Bundesverfassungsgerichts auch, sie selbst und nicht die zuständigen Politiker sollten für jede einzelne ein Grundrecht einschränkende Maßnahme zur Minderung der Ansteckungsgefahr prüfen, ob dabei das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird. Das Bundesverfassungsgericht soll also die Aufgabe der auf unterer Ebene arbeitenden Gerichte übernehmen, die in der Lage sind, sich auf den konkreten Einzelfall zu beziehen. Kann ein Kolumnist weltferner sein? Gute Prinzipien sind wichtig zur Orientierung, aber nicht dazu geeignet, dass man auf ihnen herumreitet.

Dr. Hans-Joachim Schemel, München

Gericht im Dämmerschlaf

Heribert Prantls Meinung zum Karlsruher Urteil spricht mir aus der Seele. Bei mir war in den letzten zwei Jahren der Eindruck entstanden, dass sich unsere höheren Gerichte in Corona-Angelegenheiten mit der Legislative auf eine simple Strategie geeinigt haben: "Wir segnen alles ab, was ihr Politiker beschließt, dann können wir uns nicht in die Nesseln setzen." Das aktuelle Karlsruher Urteil würde dieser vermeintlichen Strategie entsprechen. Jetzt hat Herr Prantl den Verfassungsrichtern eine saftige Watschn verpasst, die hoffentlich laut genug durchs Land hallt und schallt, um einige hochrangige Repräsentanten der Judikative aus ihrem privilegierten Dämmerschlaf zu reißen.

Wenn Richter sich als mutlose Vasallen von Politikern zeigen, dann nützen sie der Demokratie wenig. Wenn dann engagierte Kolumnisten in einer Tageszeitung eine sehr deutliche Sprache sprechen, dann ist das lebendige Demokratie. Das Gute hierzulande ist, dass auf jeden enttäuschenden Murks eine ausgleichende Gegenreaktion möglich und wahrscheinlich ist.

Ferdinand Wagner, Rosenheim

Juristen sind keine Virologen

Als das Grundgesetz 1949 verfasst wurde, war eine solch weltumspannende Pandemie mit diesen gravierenden Auswirkungen nicht in Sicht. Prantls Vorwurf an das Verfassungsgericht, es versage in der Rolle des Hüters der Verfassung, kommt einer Aufforderung gleich, das Gericht möge die Scheuklappen aufsetzen und die Realität ignorieren. Er bescheinigt dem Gericht ferner Mutlosigkeit, weil es keine Grundrechtsabwägungen bei einzelnen Coronamaßnahmen vorgenommen hat - ich bin dagegen froh, dass die Richter sich nicht zu Virologen und Epidemiologen erhoben haben. Denn nicht einmal diese können derzeit die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen wissenschaftlich exakt bestimmen, da immer Bündelungen von verschiedenen Maßnahmen gleichzeitig durchgeführt wurden und werden - Gott sei Dank! Niemand bestreitet die Problematik von Schulschließungen, aber auch hier lässt Prantl den Blick für die Gesamtsituation vermissen. Auch hier bin ich erleichtert, dass die Richter diese Abwägung erkannt haben, auch wenn ich ebenfalls der Meinung bin, dass die Politik im Bildungsbereich wenig Weitsicht bewiesen hat.

Die empirische Forschung, die Herr Prantl fordert, wird gerade weltweit durchgeführt, und ich will nicht bestreiten, dass sie in Deutschland intensiviert werden sollte. Aber die Drohung, künftig Grundrechtseingriffe nicht mehr zu akzeptieren, wenn der Gesetzgeber dazu keine empirische Forschung in Auftrag gegeben hat, ist hochnaiv. Denn wenn die Politik in einer neuartigen Situation erst dann Maßnahmen erlassen "darf", wenn die Situation empirisch gründlich untersucht ist, dann ist sie sehr lange handlungsunfähig. Das kostet womöglich viele Menschenleben. Und das wird dann definitiv die Hüter der Verfassung auf den Plan rufen!

Anette Nierhoff, Castrop-Rauxel

Um Leben und Tod

Schade, dass Herrn Prantl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Freiheit zum Suizid nicht eingefallen ist. Dort wurde der unbegrenzten Freiheit, der absoluten Autonomie des Menschen das Wort geredet. Ich habe das als ein gravierendes Fehlurteil empfunden, weil es dem Leben jede Verantwortung abgesprochen hat. Dass es zwischen Autonomie und Heteronomie noch etwas Drittes geben könnte, das hatte das Gericht nicht im Blick. Nun, da es in der Corona-Krise um die Verantwortung gegenüber dem Leben geht, zieht das Gericht sich aus der Verantwortung, weil ihm offenbar die Grenzen der menschlichen Autonomie hart auf die Füße gefallen sind. Das Bundesverfassungsgericht hätte offen zugeben müssen, dass es im Urteil über die Freiheit zum Suizid zu weit gegangen ist.

Nun aber brennt den Richtern die Verantwortung für Leben und Gesundheit eines ganzen Volkes unter den Nägeln. Angesichts dieser Aufgabe erklärt es sich für unzuständig und lässt die Politik und das ganze Volk im Unklaren, was die Verantwortung für das eigene Leben angeht. Offenbar ist es den Richtern nicht wichtig genug, sich in solch brennende Tagesgeschäfte des Lebens einzumischen. Damit gibt es eine eigene Verantwortung aus der Hand.

Helmut Brendel, Celle

Kein Ersatzgesetzgeber

Diesmal keine Eloge auf das Bundesverfassungsgericht, vielmehr ein Verriss von Heribert Prantl. "Mutlos" sei das Urteil. Es habe seine Wächterrolle (Freiheitsrechte) verfehlt. Das impliziert, in Karlsruhe müsse man sich angesichts schwerster Verwerfungen im Klein-Klein Hunderter Einzelentscheidungen verlieren, anstatt die großen Linien zu definieren. Es ist umgekehrt: Der latente Vorwurf, das Gericht spiele sich als Ersatzgesetzgeber auf, der der Legislative quasi in die Speichen greift, scheint zu wirken. Karlsruhe nimmt sich zurück. Und das ist richtig. Die Parallele zum "schandbaren" Asylurteil vor 25 Jahren ist an den Haaren herbeigezogen. Im Vordergrund stand schon damals der grassierende Missbrauch. Ein Recht, das in Reinform nur unter Schönwetterbedingungen funktioniert und die Bevölkerung mehrheitlich irritiert, darf nicht sakrosankt bleiben.

Christoph Schönberger, Aachen

Beitrag geleistet

Selbstverständlich kann man vielen Entscheidungen unserer Bundes- und der Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Gefahr beipflichten und sie auch befolgen. Allerdings halte ich es für einen Skandal, wenn diese Maßnahmen zukünftig auf einem Blankoscheck beruhen werden, den ein Verfassungsorgan ausgestellt hat, dem das Grundgesetz einst die Wahrung verfassungsmäßiger Grundrechte überantwortet hatte. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes braucht sich aber niemand mehr der Illusion hinzugeben, dass in Krisenzeiten dieses Gericht ihn oder sie jemals noch wirkungsvoll vor Willkürmaßnahmen des Staates schützen wird.

Die Richterriege hat nicht einmal mehr die Kraft aufgebracht, die grundsätzliche Genehmigung der Maßnahmen von roten Linien abhängig zu machen, die künftige Regierungen bei Einschränkungen von Grundrechten niemals überschreiten dürften. Stattdessen hat es Parlamenten quasi eine Schablone angefertigt, mit welcher sie in Zukunft mit minimalem Begründungsaufwand jedes Grundrecht aushebeln können, das einstmals von einer "Ewigkeitsgarantie" geschützt erschien.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich finde, dass die gegenwärtige Corona-Leugner-Szene durchaus eine Gefahr für unseren Rechtsstaat darstellt und der Staat sich gegen sie wehren muss. Mit seinem duckmäuserischen Urteil hat das Bundesverfassungsgericht aber einen verheerenden Vertrauensschaden bei all denen angerichtet, die bislang nur stille Zweifel an der einen oder anderen Zwangsmaßnahme hegten, andererseits aber immer noch an die Rechtsstaatlichkeit unseres politischen Systems glaubten. Ich fürchte, wenn sich jetzt noch mehr Menschen innerlich von unserer verfassungsmäßigen Ordnung abwenden, dann hat auch das Bundesverfassungsgericht seinen Beitrag dazu geleistet.

Hans Weber, Kaiserslautern

Verstehen und vermitteln

Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts besteht aus hochqualifizierten, erfahrenen Juristen mit unterschiedlichen politischen Neigungen und fachlichen Werdegängen. Wenn diese acht Richter zu einem so eindeutigen Ergebnis kommen wie im Fall der Bundesnotbremse, dann sollten Beobachter dieses nicht nur zähneknirschend hinnehmen, es schon gar nicht als Ausfluss kollektiver Feigheit und Kumpanei mit der Politik verunglimpfen, sondern auch öffentlich versuchen, es zu verstehen und ernst zu nehmen.

Das Verfassungsgericht ist berufen, uns eine verbindliche Auslegung unserer Verfassung zu geben. Wir haben nur dieses eine. Wenn als kompetent und systemtreu geltende Persönlichkeiten die Weisheit seiner Urteile bestreiten und die Beweggründe der Richter ins Zwielicht rücken, wie soll man dann noch gegen die haltlosen Meinungen all der selbstberufenen Querdenker argumentieren? Wie jedes System lebt auch das demokratische vom Respekt, das man seinen Organen entgegenbringt. Hüten wir uns, diesen zu unterhöhlen.

Axel Lehmann, München

© SZ vom 15.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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