Anne Will:Wo geschliffene Redekunst auf Flegelhaftigkeit trifft

Lesezeit: 5 min

Der Auftritt des ukrainischen Botschafters Anrij Melnyk und des Sozialpsychologen Harald Welzer im Fernsehen hat die einen bewundernd zurückgelassen, die anderen eher verärgert.

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk (links) und Sozialpsychologe Harald Welzer. (Foto: Jürgen Heinrich /imago)

"Eine Lektion in Rhetorik" vom 10. Mai:

Keine Frage der Rhetorik

Hat der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk dem Sozialpsychologen Harald Welzer tatsächlich "eine Lektion in Rhetorik" erteilt, wie Nele Pollatschek behauptet? Oder hat er die Diskussionsrunde bei Anne Will benutzt, mit moralischen Anklagen für Waffenlieferungen an die Ukraine zu werben? Zuerst versuchte der Botschafter, den Sozialpsychologen persönlich als realitätsfernen, inkompetenten Wissenschaftler zu disqualifizieren - inhaltlich wenig überzeugend. Denn es ist egal, welcher Berufsgruppe man als Waffengegner oder Befürworter angehört; man argumentiert immer aus der Position dessen, der nicht aktiv am Krieg beteiligt ist.

Andrij Melnyk leitete aus den deutschen NS-Verbrechen in der Ukraine eine Verpflichtung zur militärischen Einflussnahme ab. Jedoch könnte man ganz im Gegenteil wegen dieser Kriegsverbrechen, da sie auch das heutige Russland millionenfach betrafen - was nicht verschwiegen werden sollte -, eine besondere militärische Zurückhaltung bei deutschen Waffenlieferungen für geboten halten.

Zudem behauptete der Botschafter, wer zögere und Bedenken habe, mache sich schuldig, weil er den russischen Aggressoren Zeit für weitere Kriegsverbrechen einräume. Das Argument war das schwächste, denn die Waffengegner schlussfolgern umgekehrt: Waffenlieferungen würden den Schrecken des Krieges ins Endlose hinauszögern und damit nur vermehren. Sogar Britta Haßelmann (Grüne) wies Melnyk hier in die Schranken: Jeder Schritt zur militärischen Unterstützung würde stets besonnen beurteilt und durchdacht.

Alle Argumente zielten darauf ab, entweder den Professor persönlich oder aber die Deutschen im Allgemeinen moralisch und emotional mit massiven Schuldanklagen verschiedenen Schweregrades unter Druck zu setzen. Die Lektion aus dieser Debatte ist aber nicht rhetorischer Natur. Sie besteht vielmehr in der inhaltlichen Differenz.

Der von dem Philosophen Jürgen Habermas skizzierte heroische Nationalismus der Ukrainer wurde von Andrij Melnyk und die postheroische Mentalität des Westens von Harald Welzer verkörpert, einem der Erstunterzeichner des offenen Briefes an den Kanzler. Das Aufeinandertreffen der "politisch-mentalen Differenzen", die sich aus "ungleichzeitigen historischen Entwicklungen erklären", so Jürgen Habermas, führe zu gegenseitigen Vorwürfen und folgenreichen Missverständnissen. Und genau das war es, was diese Debatte - abseits der rhetorischen Schwächen auf beiden Seiten - inhaltlich charakterisierte.

Als Zuschauerin und Unterzeichnerin des offenen Briefes an den Kanzler schließe ich mich Jürgen Habermas an: Trotz der unerträglich hohen Opfer, die der Krieg fordert, gibt es keine "überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die den gut begründeten Entschluss einer Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt".

"Nichtbeteiligung" ist eine sehr konkrete Handlungsanweisung und nicht nur eine Frage der Rhetorik.

Dr. Dorothea Hennig, Offenburg

Einschaltquoten im Fokus

Was hat sich Anne Will beziehungsweise die Redaktion davon erhofft, einen arroganten Professor und einen provokanten Botschafter aufeinander loszulassen? Gegenseitiges Verständnis? Verbale Abrüstung? Tiefere Einblicke in das Kriegsgeschehen in der Ukraine? Ich vermute, es war "Krawall" erwünscht zugunsten von Einschaltquoten, konkurrierend mit dem derzeit beherrschenden Thema in den Talkshows im deutschen Fernsehen. Übrigens sind die prominentesten Verfasser des "Schwarzer"-Briefs seither in jeder Talkshow zu Wort gekommen. Das nur nebenbei.

Rita Wolz, Rottenburg

Einseitige Talkrunde

Die Autorin irrt mit ihrer Beurteilung der Talkrunde bei Anne Will. Nicht der Soziologe Harald Welzer "muss eine Lektion in Rhetorik lernen", sondern der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk. Ob sein ständiges Bullying der Ukraine dient, sei dahingestellt - aber vom Schulhof wäre er damit längst verwiesen worden, und es läuft bereits eine Petition gegen ihn. Wenn die Haltung der Deutschen zum Thema Lieferung schwerer Waffen zwiegespalten ist, und Befürchtungen einer damit einhergehenden, weltweit spürbaren Eskalationsspirale etwa 50/50 sind, dann sollten die Talkrunden dieses Verhältnis widerspiegeln.

Warum lässt man Harald Welzer alleine gegen vier Andersgläubige ins Messer laufen und stellt ihm nicht den Militärexperten Erich Vad zur Seite, der mit seiner Expertise und Erfahrung mit anderen Kriegen im Irak oder in Libyen Welzers Argumente fachlich untermauern kann? Warum werden neben dem ukrainischen Botschafter keine afrikanischen, arabischen, asiatischen eingeladen, um die eurozentrische Perspektive endlich auf den Rest der Welt zu weiten? Schließlich müssen Araber und Afrikaner wegen der kriegsbedingt steigenden Energie- und Lebensmittelpreise zwangsweise auch "für die Ukraine" hungern, schwitzen, frieren, sterben. Zudem kämpfen nicht nur Ukrainer für Freiheit und Selbstbestimmung, auch Tibeter, Sahauris oder Palästinenser. Warum werden diese, wenn es um die Durchsetzung von Völker- und Menschenrecht geht, nicht ebenso mit Sanktionen und Waffen unterstützt? Warum waren fünf Millionen Tote im Kongo, die unter anderem in Kämpfen für die Rohstoffversorgung für unsere schöne digitale Glitzerwelt starben, keine Talkshows wert? Dazu hätte Welzer vieles beisteuern können, wenn er gedurft hätte.

Sabine Matthes, München

Einfach rüpelhaft

Die Autorin hat recht: Die Debatte darüber, welche Maßnahmen dem russischen Angriffskrieg entgegengesetzt werden müssen, verlief in den deutschen Medien bisher eher einseitig und bedarf der Ergänzung. Überhaupt nicht teilen möchte ich ihre Sicht auf den Streit zwischen Harald Welzer und Andrij Melnyk: Nachdem Welzer sehr konkret am Beispiel der Kriege in Afghanistan und Syrien belegt hatte, dass die Aufrüstung in diesen Konflikten zu keinem logischen Ende, sondern zu jahrelangen, nicht zu befriedenden, mörderischen Kriegshandlungen führte, antwortete Melnyk nicht mit einem Gegenargument, sondern mit dem abfälligen Hinweis auf Professoren, die in Hinterzimmern philosophieren. Rüpelhaft bezeichnete der Botschafter Welzers Position als "moralisch verwahrlost". Was lässt sich über die Debattenkultur in unserem Land aussagen, wenn eine SZ-Autorin dies nicht kritisch analysiert, sondern bedenkenlos feiert?

Klaus Knoche, Seeheim-Jugenheim

Stur und überheblich

Interessante Deutung, ich bin beim Zuhören und Zuschauen zu einem anderen Schluss gekommen: Sicher, Botschafter Melnyk ist ein Meister der Rhetorik. Aber reicht das? Ansonsten wirkte er besonders im direkten Gespräch mit dem Soziologen Harald Welzer stur und überheblich. Und ich dachte mir am Ende der Sendung, das hat der Welzer trefflich hervorgelockt.

Kay Brockmann, Hamburg

Wahrheit ausgeblendet

Andrij Melnyk bescheinigt die Autorin in rhetorischer Hinsicht Champions-League-Format (er sei "verdammt gut in seinem Job"), Welzer verortet sie - unausgesprochen - wohl in der Kreisklasse. Von einer kritischen Journalistin hätte ich aber nicht nur das Lob über rhetorische Gewandtheit erwartet. Sie hätte vielmehr darauf eingehen können, dass Melnyk inhaltlich lügt, denn: Das Weglassen von Wahrheit kann man durchaus als Lüge einordnen. Genauer beziehe ich mich auf den Satz: "Jedes Thema leitet er (Melnyk) ein und schließt er ab mit der Erinnerung an die deutschen Verbrechen... dass wirklich kein Durchschnittsdeutscher da noch irgendwie antworten kann."

Als Durchschnittsdeutscher, geboren zehn Jahre nach Kriegsende, versuche ich mal eine Antwort: Ich habe immer Schuld empfunden angesichts deutscher Verbrechen und nehme die historische Verantwortung der Deutschen für Millionen tote Ukrainer, Russen und Angehörige anderer Völker voller Scham an. Ganz anders Melnyk: Heute noch verehrt er Stepan Bandera als ukrainischen Nationalisten und "Kriegshelden", der tatsächlich ein ausgewiesener Nazikollaborateur war, an Judenpogromen beteiligt, entsprechend den Zielen seiner Organisation OUN, die Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen "Feinden" der Organisation zu säubern.

Ich frage Andrij Melnyk nach seinem Schamgefühl und finde, dass - neben aller Rhetorikanalyse - in einem fundierten Artikel solch inhaltlich bedeutsame Wahrheiten nicht ausgeblendet werden dürfen.

Manfred Herl, Breitengüßbach

Was Melnyk noch lernen muss

Die ganzen Talkshows sind unerträglich, da dort nahezu nur noch eine Meinung propagiert wird und Vertreter der anderen Meinung oft gar nicht eingeladen werden oder dem einen Alibivertreter der anderen Meinung nur unzureichend die Möglichkeit gegeben wird, sich zu äußern.

Der Krieg wird nur durch Verhandlungen beendet werden können. Beide Seiten werden nachgeben müssen. Melnyk hat unrecht, nicht die verzögerte Lieferung von schweren Waffen kostet Menschenleben, sondern der Ausschluss von Verhandlungen wird immer mehr Menschenleben kosten. Deutschland tut sehr viel für die Ukraine. Da muss man sich nicht die Flegeleien von Melnyk anhören. Wenn man von jemandem etwas will, hat man ihn nicht mit Beleidigungen zu überziehen. Das muss Andrij Melnyk noch lernen. Da ist Selenskij schon weiter.

Rolf Werner, Stolberg

© SZ vom 20.05.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: