Vor zwei oder drei Jahrzehnten mussten die meisten Menschen den Begriff "Osteopathie" wohl erst einmal nachschlagen. Heute sieht das anders aus: Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage war fast jeder fünfte Deutsche über 14 Jahre schon einmal beim Osteopathen. Tendenz steigend. In Auftrag gegeben hat die Studie der VOD, der Verband der Osteopathen Deutschland. Dessen Vorsitzende Marina Fuhrmann schätzt, dass es ungefähr 10 000 Osteopathen in Deutschland gibt. Und das, obwohl der Beruf nach Ansicht der Bundesärztekammer eigentlich gar nicht existiert.
Geschützt ist die Bezeichnung jedenfalls nicht. Darum fordert Fuhrmann ein Berufsgesetz für Osteopathen. Der VOD will einen dritten Heilberuf neben den Ärzten und Heilpraktikern installieren. "Der Staat vernachlässigt seine Schutzpflicht gegenüber den Patienten, die keine Unterscheidungsmöglichkeit haben, wer qualifiziert ist und wer nicht", meint Fuhrmann. Sie selbst lehrt das Fach an der privaten, staatlich anerkannten Fachhochschule Fresenius in Idstein bei Frankfurt. Vor sechs Jahren wurde sie zur ersten Osteopathie-Professorin Deutschlands ernannt.
"Angst vor Berührung darf man nicht haben."
Der Begriff Osteopathie setzt sich aus den altgriechischen Wörtern für Knochen und Leiden zusammen. "Tatsächlich geht es aber um viel mehr", sagt Anja Clausen, die seit 2010 in München als Osteopathin arbeitet. Es gehe um den ganzen Körper mit all seinen Knochen, Muskeln, Organen und vor allem um die Versorgung des Gewebes mit Blut und Lymphflüssigkeit.
"Mein wichtigstes Arbeitsinstrument sind meine Hände", sagt Clausen. Die Osteopathie betrachtet den Körper als ein Zusammenspiel von Bewegungen. Ist die Bewegungsfreiheit eines Körperteils, eines Organs, eingeschränkt, entstehen zunächst Gewebespannungen und daraus Funktionsstörungen. Mit ihren Händen will Clausen diese Blockaden ertasten und beseitigen und den Körper so zur Selbstheilung anregen. "Die Technik ist das eine", sagt Clausen. Wichtiger noch sei es, spüren zu können.
Fünf Jahre hat ihre Ausbildung an der Osteopathie-Akademie München gedauert: neben Anatomie-Büffeln viel Praxis-Unterricht. "Angst vor Berührung und Scheu, nackt zu sein, darf man in der Ausbildung nicht haben", sagt Clausen. Bevor die Lernenden auf die ersten Patienten losgelassen werden, dienen sie sich gegenseitig als Versuchsobjekte. 1350 Unterrichtsstunden musste sie absolvieren und vier Prüfungen bestehen.
Wer im Internet nach "Osteopathie" sucht, findet unübersichtlich viele Einrichtungen, die unterschiedlichste Ausbildungen anbieten. Drei Hochschulen bieten sogar Bachelor- und Master-Abschlüsse in Osteopathie an. Neben der Fresenius Hochschule sind das die Dresden International University und die SRH Hochschule für Gesundheit in Gera. Bundesweite Qualitätsstandards gibt es allerdings nicht. Fuhrmann will das ändern. Doch der Gesetzgeber hält sich zurück.
"Da besteht auch kein Regelbedarf", sagt Johannes Buchmann, der die Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter in Rostock leitet. 2009 gehörte er zu einem Arbeitskreis, der für die Bundesärztekammer die osteopathischen Verfahren wissenschaftlich bewertet hat. Das Fazit: Die Osteopathie sei kein eigenständiger Beruf.
Viele der Methoden seien bereits Teil der manuellen Medizin, die - der Name sagt es schon - ebenfalls geschulte Handgriffe für die Behandlung, aber auch für die Diagnose erfordert. Die Ärzte suchen gezielt nach Muskelverspannungen, Bindegewebsveränderungen oder Temperaturdifferenzen, die auf ein Problem hindeuten. Vermittelt werden diese Methoden allerdings nicht im Studium oder in der Facharztausbildung, sondern lediglich in medizinischen Weiterbildungen.
Clausen hat vor ihrer Osteopathie-Ausbildung bereits eine Lehre zur Physiotherapeutin und ein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen. Heute arbeitet sie nur noch osteopathisch. Jeden Tag behandelt sie fünf Patienten in ihrer kleinen Praxis. "Mehr schaffe ich nicht", sagt sie. "Die Arbeit ist so intensiv, dass danach meine Konzentration am Ende ist."
Vor jeder Diagnose befragt sie die Patienten ausgiebig und tut vor allem eines: Sie hört zu. Für jeden nimmt sie sich eine Stunde Zeit, also ungefähr 53 Minuten mehr, als das durchschnittliche Gespräch zwischen Arzt und Patienten dauert. Für sie ist dies einer der Gründe, sich nach der Approbation an der Osteopathie-Akademie einzuschreiben. "Und weil ich gern über den Tellerrand schaue", sagt sie.
Clausens Patienten kommen mit den unterschiedlichsten Beschwerden zu ihr: Kopf- oder Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme oder Bluthochdruck beispielsweise. Wer nicht wie Clausen bereits Arzt ist und als Osteopath praktizieren möchte, muss sich allerdings mit einem Trick behelfen.
"Manche Vorstellungen stammen noch aus dem 19. Jahrhundert."
Physiotherapeuten mit Osteopathie-Ausbildung, aber ohne Heilpraktiker-Zulassung etwa, dürfen nur auf Verordnung eines Arztes osteopathische Methoden anwenden. Ohne ärztliche Verordnung dürfen das in Deutschland lediglich Ärzte selbst und Heilpraktiker. Und da man Medizin in der Regel nicht mal eben nebenbei studiert, bieten die meisten Osteopathie-Akademien zusätzlich die entsprechenden Fortbildungsbausteine zum Heilpraktiker an. Für diesen benötigt man lediglich einen Hauptschulabschluss. Auch der Aufwand für die amtliche Zulassungsprüfung ist recht überschaubar.
Allein im Bundesland Hessen, wo die Osteopathie-Professorin Marina Fuhrmann praktiziert, hat der VOD es geschafft, diesen Zustand zu ändern. Dort regelt eine Verordnung seit 2008 die Weiterbildung zum Osteopathen. Sie gilt für Physiotherapeuten, medizinische Bademeister, Masseure und Heilpraktiker. Diese können nun an staatlich anerkannten Osteopathie-Schulen den Titel "staatlich anerkannter Osteopath" erlangen.
Die Bundesärztekammer sieht das kritisch: Die Osteopathie gehöre zwingend in die Hände von qualifizierten Ärzten und Physiotherapeuten. "Wer sich dem verweigert, spielt ohne Not mit der Gesundheit und Sicherheit von Patienten", warnte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, vergangenes Jahr in einem Brief an das Bundesgesundheitsministerium.
"Manche medizinischen Vorstellungen der Osteopathie stammen noch aus dem 19. Jahrhundert", erklärt der Rostocker Professor Buchmann. Entwickelt hatte sie damals der amerikanische Mediziner Andrew Taylor Still. In den USA ist das Studium der Osteopathie seit den 1960er-Jahren eine akademische Ausbildung. Die ungefähr 54 000 amerikanischen Osteopathen führen den Titel D.O., "Doctor of Osteopathy".
Mittlerweile wird die Osteopathie in nahezu allen Ländern Europas praktiziert. In einigen, beispielsweise in Großbritannien, Finnland und Frankreich, ist sie berufsgesetzlich geregelt. Die Berechtigung einiger osteopathischer Methoden zweifelt auch Buchmann nicht an. Er hebt besonders die "sehr guten Handgriff-Techniken" hervor. Und mehr noch: Für die Ärztevereinigung für Manuelle Medizin bildet Buchmann Ärzte weiter, die das Diplom für ärztliche Osteopathie anstreben.
Die osteopathischen Fachverbände und Ausbildungseinrichtungen haben ebenfalls ihre eigenen Standards geschaffen. 2004 haben sie die Bundesarbeitsgemeinschaft Osteopathie gegründet und Eckpunkte für die Osteopathie-Ausbildung festgelegt - eine Art Zulassungs-TÜV.
Egal auf welchem Weg man Osteopath geworden ist: Einige der gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Patienten zumindest teilweise. Die liegen zwischen 60 und 200 Euro pro Stunde. Der Preis hängt von der Region ab und davon, ob der Osteopath Arzt oder Heilpraktiker ist. Mediziner können etwas mehr verlangen. Wer sich als Osteopath selbständig macht und eine akzeptabel laufende Praxis hat, kann in der Regel gut davon leben. Bei Physiotherapeuten, besonders bei angestellten, sieht das oft anders aus.