Mannheim:Mit gesenktem Blick

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Eine Landkarte? Ein Kommentar? Sven Johne fotografiert Böden und beschreibt den Zustand Europas.

Von Catrin Lorch

Die Route geht einmal durch Europa, durchschneidet den Kontinent vom Südosten in Richtung Nordwesten - viele Tausend Kilometer. Sven Johne hat sich mit der Kamera auf den Weg gemacht, von Idomeni bis Calais. Die Strecke verbindet zwei der Orte, deren Namen zu symbolischen Begriffen wurden, zu Wörtern, "in denen die sogenannte Flüchtlingskrise anklingt", wie Sven Johne sagt. Idomeni - das war im Jahr 2015 der Ort in Griechenland, an dem sie erstmals zu Tausenden anzulanden schienen. Calais - das ist der französische Hafenort, in dem sie strandeten, im Dschungel, wie man ein kleines Waldstück, das den Flüchtlingen zum Lager und Versteck wurde, bald nannte.

Doch was wirkt wie eine dieser klassischen Expeditionen, bei denen ein Mann durch die Linse schaut und etwas über den Zustand der Welt erkennt, ist keine Reportage. Sondern ein Bild, das ratlos macht, das sich verweigert. So bleibt vor dem neun Meter breiten Panorama wenig übrig vom Kontinent. Wie ein gewaltiges Gitter stehen die Aufnahmen nebeneinander, eine jede gekennzeichnet mit dem Namen des Ortes, an dem sie entstand, einem Datum und einer Uhrzeit. "Idomeni (Greece)", das ist zersplittertes Holzlaminat, ein kaputter Fußboden, in dem etwas Beton sichtbar wird.

Sven Johne hat seine Kamera schräg nach unten gerichtet, ein alltäglicher Blickwinkel, die Sichtachse, die man beim Gehen selbst gewohnt ist. Wenn man gerade nicht den Blick hebt, auf das Panorama vor sich oder die unmittelbare Umgebung. Wenn man einfach nur aufpasst, wo man hintritt. Dass der im Jahr 1976 auf Rügen geborene Sven Johne für seine Arbeit "47 Fehler zwischen Calais und Idomeni" insgesamt 13 Länder durchkreuzt hat, sieht man den Aufnahmen nicht unbedingt an. Obwohl er gezielt haltgemacht hat in Städten wie Dresden, wo die Pegida zu gewaltigen Demonstrationen aufgerufen hat. In Theresienstadt in Tschechien, einem ehemaligen Konzentrationslager, in Orten wie Srebrenica, das zum Synonym wurde für die Massaker auf dem Balkan. Vorbei an den Ordensburgen der Nationalsozialisten. Und den Schlachtfeldern der Weltkriege.

Ist sein gewaltiges Bild nun eine Landkarte? Oder ein Kommentar? Sind die 47 Fehler, auf die der Titel anspielt, die historischen Grausamkeiten oder das sichtbare Unvermögen des Bildes, seine Verschlossenheit? Werden sie in irgendeiner Weise dem Anspruch des Mediums Fotografie gerecht, ein Spiegel zu sein? Johne hat selbst einmal Geschichte und Journalismus studiert, bevor er bei sich beim Fotografie-Künstler Timm Rautert an der Kunsthochschule in Leipzig beworben hatte, derzeit lehrt er selbst dort. Und tatsächlich ist der Künstler mit seiner Kamera ja so nah am Ort eines ehemaligen Geschehens, wie man nur sein kann. Er hat eine Route geplant, er ist gereist, hat an den Orten jeweils nach einem Standpunkt gesucht. Und es ist den 47 Aufnahmen, die sich zum großen Bild verbinden, fast körperlich anzumerken, wie schwer es einem Künstler fällt, eben gerade kein Bild zu fotografieren, den Blick an solchen Orten gesenkt zu halten - jeden Ausblick zu verweigern.

Doch es ist ja nicht so, dass es nicht ausreichend Bildmaterial gäbe, dass die Medien, das Internet nicht übervoll wären: von Schnappschüssen, Filmaufnahmen, Bildern, die bezeugen, was sich an jedem Ort Europas tut. Gerade dort, wo Geschichte geschieht, wo sich Ereignisse den Namen von Orten einschreiben. Doch die gewaltige Zurückhaltung dieses Projekts, die Reduktion und Kargheit weist über den Moment hinaus, ist eben nicht Reportage, Nachrichtenbild, Instagram-Foto.

Das große Bild "47 Faults between Calais and Idomini" , es ist eine lange Kontemplation, wer sich Zeit nimmt, kann in dem wenigen, das sich hier abbildet, vielem nachhorchen. Warum liegen in Srebrenica noch immer Kalkbrocken, Äste, Schmutz auf dem Boden - während die anderen Tatorte zwar auch nicht wiederhergestellt und repariert wurden, aber doch zumindest gefegt und gereinigt wirken? Und: Rassismus, Gewalt, Kriege, Vernichtung - die Reise in die Vergangenheit, so befürchtet der Künstler, könnte auch eine in die Zukunft sein. Das so geeinte Europa, der von Grenzanlagen umschlossene Kontinent, er zerfällt in so viele einzelne Terrains. Und die Orte, die jenseits dieser Reiseroute von 47 Namen liegen, die wirken jetzt latent. So als warteten sie nur darauf, welche Katastrophen, welche Schicksale sich dort entfalten. Sie liegen bereit.

© SZ vom 08.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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