Ausbildung:Studienabbrecher gesucht

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Handwerksberufe im Bereich Gesundheit werden bei Abiturienten immer beliebter. Dazu gehören zum Beispiel Zahntechnik oder Hörakustik. (Foto: Michael Malorny/imago/Westend61)

Weil immer mehr Schulabgänger Abitur haben und studieren wollen, fehlen den Handelskonzernen Azubis. Bei Abiturienten werben sie deshalb mit guten Aufstiegschancen.

Von Bärbel Brockmann

Immer mehr junge Menschen machen heutzutage Abitur. Und immer mehr Abiturienten studieren anschließend. Vielen fällt die Auswahl aus dem Angebot der aktuell circa 20 000 Studiengänge schwer - diese stattliche Zahl nennt der Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz. Und nur wenige wissen schon genau, was sie später einmal werden wollen. Das liegt auch daran, dass Studienanfänger heute meist jünger sind, weil das Gymnasium nur noch acht Jahre dauert und die allgemeine Wehrpflicht beziehungsweise der Zivildienst abgeschafft wurden. Auch sind die Zukunftsaussichten für Jung-Akademiker längst nicht überall gut. Dennoch, wer kann, studiert. Das Statistische Bundesamt zählte im Wintersemester 2018 / 19 gut 2,9 Millionen Studierende, 30 Prozent mehr als noch 2010.

Auf der anderen Seite fehlt in vielen nichtakademischen Berufen der Nachwuchs. Wer heute einen Tischler sucht, um sich eine neue Küchenzeile anfertigen zu lassen oder wer einen Installateur braucht, weil er seine Heizungsanlage austauschen möchte, der muss Geduld haben. Wochen- oder auch monatelange Wartezeiten auf Handwerker sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Auch im Handel wird Nachwuchs dringend gesucht; in Supermärkten sieht man Werbeplakate mit entsprechenden Lockrufen an junge Menschen.

Auch die Einzelhandelskette Rewe spürt den Mangel. Jedes Jahr braucht sie etwa 3000 Nachwuchskräfte. Weil die Zahl der Schulabgänger seit Langem sinkt und der Trend zum Studium ungebrochen ist, wird es immer schwieriger, den Bedarf zu decken. Bei Rewe nimmt man daher verstärkt das Gymnasium als Rekrutierungsquelle in den Blick und zeigt, dass man auch ohne Bachelor Karriere machen kann. Abiturienten können eine auf anderthalb Jahre verkürzte Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann oder zur -kauffrau machen und daran eine ebenfalls anderthalbjährige Weiterbildung zum Handelsfachwirt anschließen. Nach 36 Monaten ist man nach Einschätzung von Personalbereichsleiter Andreas Gutt auch betriebswirtschaftlich gut gerüstet, um Führungsaufgaben zu übernehmen. "Wir zeigen, wie schnell man bei uns in Verantwortung kommen kann. Schon in jungen Jahren kann man dann Marktmanager werden und einen Markt mit vielleicht zehn Millionen Euro Umsatz und 30 bis 40 Mitarbeitern führen", sagt Gutt.

Eine weitere Karrieremöglichkeit im Handel ist die Selbständigkeit. Die Kölner Rewe Markt GmbH wie auch der Hamburger Konkurrent Edeka betreiben nur einen Teil ihrer Filialen selbst. Bei Rewe ist das nur die Hälfte der circa 3500 Filialen, die andere Hälfte wird jeweils von selbständigen Kaufleuten gemanagt, die in aller Regel ehemalige Angestellte sind.

Viele Abiturienten wissen nicht, wie groß das Spektrum von Ausbildungsberufen ist

Mutlu Paksoy ist beim Handelsriesen Metro der Chef des Fischeinkaufs. Der 43-Jährige bestimmt, welche Ware die Metro in ihren Cash-and-Carry-Märkten in derzeit 25 Ländern weltweit anbietet, er sucht die Lieferanten aus, verhandelt über Mengen und Preise und legt die Einkaufsstrategie fest. Bevor er diese Führungsrolle im Konzerneinkauf übernahm, war Paksoy jahrelang für die Personalabteilung als Vertriebsfachberater im Ausland unterwegs. Davor hat er Fachabteilungen in deutschen Märkten geleitet. Paksoy hat nicht studiert. Nach dem Fachabitur machte er eine zeitlich verkürzte Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann und ist seitdem die Karriereleiter hochgestiegen. "Ich habe hier noch nie gehört, dass es von einem Studium abhängt, ob jemand Karriere machen kann. Wer sich voll einbringt, kommt weiter. Da gibt es keine Grenzen", sagt er.

Die Metro AG setzt seit Jahren stark auf Abiturienten. "Wir bieten unseren Azubis viel Eigenverantwortung, deshalb müssen sie schon eine gewisse Reife haben", sagt Evelyn Lenz, zuständig für die Personalentwicklung. Aus diesem Grund kommen für die Ausbildungsberufe auch nicht nur Abiturienten infrage, sondern auch Studienabbrecher. Viele seien einfach von ihrem Umfeld in ein Studium gedrängt worden, fühlten sich darin aber nie richtig zu Hause, meint Lenz. Solche Leute will der Konzern Metro an sich binden. Gescheiterte Informatikstudenten können schließlich immer noch gute Fachinformatiker werden, so das Kalkül.

Ob sich solche Bemühungen um Abiturienten für die einzelnen Betriebe auszahlen, ist noch offen. Immerhin aber hat das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) errechnet, dass der Anteil der Abiturienten, die einen Ausbildungsvertrag in Handel, Handwerk oder Industrie unterschrieben, von 2009 bis 2016 von 20,3 Prozent auf 28,7 Prozent stieg. Diese Entwicklung könnte sich weiter zugunsten der Ausbildungsberufe verschieben, wenn es gelänge, die Attraktivität der Ausbildung zu erhöhen, etwa durch ein Aufzeigen der zukünftigen Arbeitsmarkt- und Karriereperspektiven, heißt es beim BIBB. Doch das reicht nach Ansicht seines Präsidenten Friedrich Hubert Esser nicht. Er fordert eine gesellschaftliche Wertediskussion, denn solange eine akademische Ausbildung höher angesehen sei als eine berufliche, werde sich an der aktuellen Situation wenig ändern.

Auch David Schütz hat nicht studiert. Nach dem Fachabitur hat der 27-Jährige eine Ausbildung zum Augenoptiker gemacht und danach zwei Jahre als Geselle gearbeitet. Seit eineinhalb Jahren besucht er die Höhere Fachschule für Augenoptik in Köln, in einem Semester wird er sie mit der Meisterprüfung abschließen. Er könnte dann selbst einen Betrieb eröffnen und Lehrlinge ausbilden. "Augenoptiker werden händeringend gesucht, nicht nur in Deutschland. Mit diesem Abschluss kann man auch im Ausland arbeiten", sagt Schütz. In der Schweiz zum Beispiel, wo man als angestellter Augenoptiker gut und gerne das Doppelte dessen verdiene, was man in Deutschland bekomme. Eine Ausbildung zum Augenoptiker kann man auch mit mittlerer Reife starten. Aber Schütz sagt, es seien sehr viele Abiturienten in seiner Klasse gewesen. In Mathematik und Physik hätten sie da einfach einen großen Verständnisvorsprung gehabt.

Das Gesundheitshandwerk ist bei Abiturienten besonders gefragt. Nach Informationen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) haben bei der Hörakustik 44 Prozent der Auszubildenden Abitur, bei der Augenoptik 37 Prozent und bei der Zahntechnik 45 Prozent. Auch für die Berufe Tischler und Zimmerer sowie für das Konditoren-Handwerk entscheiden sich überproportional viele Abiturienten. Den meisten Jugendlichen fallen nur wenige Lehrberufe ein, wenn sie sie aufzählen sollen. Wäre das Spektrum besser bekannt, würden sich mehr Interessenten finden, meint man im ZDH. Wer wisse schon, dass man auch technischer Produktdesigner, Pflanzentechnologin, Mediengestalter oder Maskenbildnerin werden könne.

Große Berufsauswahl, verkürzte Ausbildungszeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten nach der Lehre, die Möglichkeit, nach vergleichsweise kurzer Ausbildungszeit eine Führungsposition zu bekleiden, gutes Einkommen - mit diesen Argumenten versuchen Handel und Handwerk Abiturienten zu überzeugen. Zudem wollen sie einiges tun, um das Ansehen dieser Berufe zu steigern. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten. Nach einer aktuellen Untersuchung des BIBB gaben von 2500 Gymnasiasten in der Abschlussklasse 84 Prozent an, studieren zu wollen. Nur 16 Prozent wollten eine Berufsausbildung machen.

© SZ vom 08.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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