Analphabeten in Deutschland:Ganze Sätze sind zu schwierig

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Sie vergessen immer ihre Brille und füllen Formulare nur zu Hause aus. Analphabeten sind Meister der Heimlichkeit - es gibt in Deutschland mehr von ihnen, als man ahnt.

Charlotte Frank

"Ich spiele Fußball", das ist ein einfacher Hauptsatz, dem der größte Teil der Deutschen ohne orthographische Schwierigkeiten begegnen dürfte. Es gibt aber Erwachsene, die würden schreiben "Isch schspel Fussbelen". So eine Schriftprobe auf der Internetseite des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung. Oder: "Ich schplen fosbal". Oder "i Fu". Oder einfach nichts - denn mindestens vier Millionen Erwachsene in Deutschland, sechs Prozent der Bevölkerung, können nicht lesen oder schreiben. "Und das sind noch vorsichtige Schätzungen", sagt Timm Helten, Projektleiter beim Bundesverband für Alphabetisierung.

Nichts als Buchstaben

Helten ist einer der Experten, die an diesem Donnerstag auf einer Tagung in Jena mit Fachleuten aus ganz Europa über Probleme junger, "funktionaler" Analphabeten diskutieren. Und darüber, warum ihre Zahl einfach nicht abnimmt, und das seit Jahren nicht, trotz zahlreicher Hilfsangebote und Kurse. In Deutschland, sagt Helten, sind fast alle vier Millionen Analphabeten "funktional". Das heißt, sie sind zwar in der Lage, Buchstaben zu erkennen und einfache Worte zu schreiben. Aber sie können beim Lesen keine ganzen Sätze verstehen, erst recht nicht schreiben. Nicht mal "Ich spiele Fußball".

Solche Schwächen sowie das Problem, sie in den Griff zu bekommen, sind laut Helten die Folge größerer Klassen und nachlassender individueller Hilfen in der Schule. Lesekompetenz werde kaum noch gezielt gefördert, und vielfach würden daheim keine Bücher gelesen. "So können sich Kinder durchschummeln, oft durch die ganze Grundschule", sagt der Pädagoge. Doch wer nach der vierten Klasse nicht lesen kann, "wird diesen Rückstand kaum noch aufholen".

Immer mehr werden entdeckt

Eine besondere Risikogruppe seien die 70.000 Jugendlichen, die jährlich die Schule abbrechen: Sie finden sich in einem Arbeitsmarkt wieder, der immer mehr auf Information und Wissen basiert statt auf Handarbeit - und in dem mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse leicht auffallen.

"Schon bei einfachen Tätigkeiten wie dem Bedienen eines Computers droht die Gefahr aufzufliegen", sagt Margit Kreikenbom, die für den Volkshochschulverband Thüringen die Fachtagung in Jena organisiert. Es könne also sein, dass die Alphabetisierungskurse der Vergangenheit zwar Abhilfe geschaffen hätten - aber dass gleichzeitig immer mehr Analphabeten entdeckt würden.

Scham und Heimlichkeit

Für die Betroffenen bedeutet das ein Leben in Scham und Heimlichkeit. "Sie entwickeln Mechanismen, um ihre Schwäche zu verstecken", sagt Kreikenbom, zum Beispiel täuschen sie vor, ihre Brille vergessen zu haben oder nehmen Formulare zum Ausfüllen mit nach Hause. In Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" geht die Protagonistin sogar lieber ins Gefängnis, als ihren Analphabetismus zuzugeben. "Analphabetismus ist Unmündigkeit", schreibt Schlink.

Doch es gibt Abhilfe: Die Volkshochschulen bieten Lese- und Schreibkurse an, der Bundesverband für Alphabetisierung vermittelt Adressen. Im Internet steht zudem das Portal ich-will-lernen.de zur Verfügung. "Die Erfolgschancen, lesen zu lernen, sind hoch", sagt Timm Helten. Das kann aber Jahre dauern. Literaturnobelpreisträger Elias Canetti schrieb einmal: "Buchstaben sind wie Ameisen und haben ihren eigenen geheimen Staat."

© SZ vom 18.03.2010/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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