In einem Besprechungsraum unweit der Station sitzen vier Mediziner in weißen Kitteln und machen ernste Gesichter, als sie die Geschichte ihres ehemaligen Patienten hören. "Eine Behandlung gegen den Willen ist auch für die Ärzte immer eine furchtbare Situation", sagt Cornelius Schüle, der die geschlossene Abteilung leitet, auf der einst auch Lose lag. Die Zeiten hätten sich aber geändert.
Die Medizin nehme Abschied von dem paternalistischen Arzt, der selbstherrlich über die Therapie des Patienten befindet. Die Uniklinik schule ihre Ärzte überdies in Gesprächstechniken, um auch akut wahnhafte Patienten zur Kooperation zu bewegen. Manische Patienten etwa seien häufig extrem gereizt und aggressiv. Wenn Ärzte sich davon aber nicht provozieren ließen, könnten sie manche Krise ohne Zwang entschärfen.
Auf dem Tisch liegt ein dicker Aktenordner, der alles enthält, was die Klinik sich überlegt hat, um mit der neuen Situation fertig zu werden. Dazu gehört auch ein Stapel kleiner blauer Heftchen. Patienten sollen ermuntert werden, für künftige Krisen vorzusorgen und ihre Behandlungswünsche bereits vorab in einem Krisenpass festzuhalten. Darin kann auch stehen, dass ein Mensch gar nicht therapiert werden will. Für die Ärzte wäre ein solcher Wunsch bindend. Auch da habe sich das Bewusstsein gewandelt: "Früher hat man vielleicht noch gesagt: Nimm das Medikament oder Du bekommst es per Infusion", sagt der Leiter der Psychiatrischen Klinik, Peter Falkai. "Heute akzeptieren wir, dass wir nicht jedem helfen können."
Und trotzdem: Ganz ohne Zwang geht es nicht, sind sich die Ärzte an der Uniklinik einig. 1,3 Millionen psychisch kranke Menschen werden jedes Jahr in Deutschland behandelt, etwa 100.000 bis 130.000 davon haben Gerichte gegen ihren Willen eingewiesen. Nur 5000 bis 10.000 unter ihnen lehnen jede Behandlung ab und bekommen die Mittel gegen ihren Willen verabreicht, schätzen Verbände. Gemessen an der Gesamtzahl der Patienten geht es also um wenige Kranke. Ihnen aber gar nicht helfen zu können, ist für die Ärzte, die angetreten sind, um zu heilen, ein schwer erträglicher Zustand. "Was unterscheidet uns dann von einer Haftanstalt", fragt Falkai.
Eine Patienten verweigert im Wahn die dringend nötige Dialyse
Tatsächlich muss die Klinik gerichtlich untergebrachte Patienten, die eine Therapie ablehnen, weiterhin aufnehmen. Stationsarzt Schüle ist auf die geschlossen Station zurückgekehrt, wo auch diese Patienten wohnen. Von einem Überwachungsraum kann er den Gang und den mit Glasfenstern abgetrennten Aufenthaltsraum überblicken. Ein paar Patienten sitzen in Sesseln und lesen oder starren vor sich hin. Monitore zeigen außerdem, was sich in einigen mit Kameras ausgerüsteten Zimmern abspielt. Es gelingt den Ärzten hier gut, so auf die Patienten aufzupassen, dass sie sich nichts antun. Heilen dürfen sie sie ohne deren Zustimmung derzeit aber eben nicht.
Das gilt auch für Patienten, die neben der psychischen Störung an dringend zu behandelnden körperlichen Krankheiten leiden. Schüle zeigt auf eine Zimmertür. Dort liegt ein sterbenskranker Krebspatient mit einem fußballgroßen Tumor am Arm. Die Ärzte würden das Geschwür gerne entfernen, um den Patienten davor zu schützen, dass Gefäße reißen und er womöglich verblutet. Sie dürfen das aber genausowenig, wie sie eine nierenkranke Bewohnerin zur Dialyse zwingen können, die in ihrem Wahn überzeugt ist, die Ärzte wollten sie mit der Blutwäsche vergiften.
Aber rechtfertigen diese Einzelfälle den Zwang als Behandlungsmethode? Nicht alle Mediziner sind davon überzeugt. Einzelne Chefärzte haben in den vergangenen Monaten erlebt, dass der Verzicht auf Zwang das Vertrauen der Patienten gestärkt habe.
Man habe den Kranken gesagt, dass nichts gegen ihren Willen geschehen dürfe, und konnte sie gerade deshalb am Ende alle von einer Therapie überzeugen, schreibt etwa der Chefarzt der psychiatrischen Station eines Regionalkrankenhauses in Heidenheim, das für 135.000 Einwohner die Versorgung übernimmt, in einem Brief an das Justizministerium. Einen wichtigen Unterschied aber gab es: Die Patienten blieben wesentlich länger in der Klinik, statt sechs Wochen waren es etwa drei Monate. Die zwangfreie Klinik, sie ist so am Ende auch eine Frage des Geldes: Wie viel Verrücktheit will sich eine Gesellschaft leisten, und wie viel Abweichung von der Norm verträgt sie?