Westdeutsche Pharmaunternehmen haben in Hunderten Studien Medikamente an DDR-Bürgern getestet. Unter der Leitung des Medizinhistorikers Volker Hess haben Wissenschaftler der Berliner Charité zweieinhalb Jahre lang untersucht, ob diese Studien rechtmäßig und ethisch vertretbar waren. Finanziert wurde das Projekt unter anderen von der Bundesregierung, der Bundesärztekammer und dem Verband forschender Arzneimittelhersteller. Ein unabhängiger wissenschaftlicher Beirat begleitete die Untersuchung. Die Aufträge für die Medikamententests kamen vor allem aus Westdeutschland, aber auch aus der Schweiz, Frankreich, den USA und Großbritannien. Am Dienstag stellte Projektleiter Hess den Abschlussbericht vor.
SZ: Waren die Medikamententests in der DDR rechtmäßig?
Volker Hess: Die Auftragsstudien wurden nach den damals in Ost- und Westdeutschland geltenden Regeln und Gesetzen durchgeführt. Diese unterscheiden sich allerdings von den hohen ethischen Standards, die wir heute haben.
Inwiefern?
Zum Beispiel wurde die Einwilligung der Patienten recht lax gehandhabt. Erst Mitte der 70er-Jahre wurde sie verpflichtend. Allerdings ist die Unterschrift der Studienteilnehmer nicht dokumentiert. Vielmehr hat der Prüfarzt ein Kreuz in ein Formular gesetzt. Manchmal hat ein Zeuge unterzeichnet. Das war damals Usus - im Osten wie im Westen.
Wie heikel waren die Studien in der DDR?
Die Tests waren nicht heikel in dem Sinne, dass gezielt Medikamente mit besonders starken Nebenwirkungen oder Risiken in der DDR getestet worden wären. Aber es gab einige Studien mit einem Geschmäckle. So hätte der Wirkstoff Ramipril gegen Herzinsuffizienz in der BRD mit einem Konkurrenzpräparat verglichen werden müssen, das seine Wirksamkeit bereits gezeigt hatte. In der DDR aber gab es noch keine Medikamente mit einem ähnlichen Wirkstoff. Man verglich Ramipril somit mit einem Scheinmedikament.
Besserte der Pharmakonzern damit das Studienergebnis auf?
Im Vergleich zu einem Placebo erzielt man bessere Ergebnisse als im Vergleich mit einem Konkurrenzpräparat. Aber man kann nicht sagen, dass DDR-Probanden durch das Placebo geschädigt wurden. Alle bekamen weiterhin ihre übliche Medikation, ein Teil darüber hinaus noch ein Medikament, das es in der DDR regulär nicht gab.
Das klingt, als hätten die Probanden bereitwillig teilgenommen ...
Manche haben darum gebeten, in eine Studie aufgenommen zu werden, vor allem, wenn es um Medikamente ging, die in der DDR nicht verfügbar waren. Wir haben Briefe mit entsprechenden Bitten gefunden. Die Pharmafirmen nutzten das Versorgungsgefälle zwischen Ost und West aus .
Haben die Hersteller auch finanziell von dem Arrangement profitiert?
Die Honorare für die Medikamentenprüfungen waren in der DDR zwar etwas niedriger. Aber diese Einsparungen dürften nicht die entscheidende Rolle für die Hersteller gespielt haben.
Was war der entscheidende Vorteil?
Die schnelle Durchführbarkeit der Studien in der DDR. Der Staat übernahm quasi die Rolle eines Auftragsforschungsinstituts: Er war zentraler Ansprechpartner und hat sich um alles gekümmert. Alle staatlichen Organe - bis hin zur Staatssicherheit - waren einbezogen und haben die Durchführung überwacht. Das garantierte Sorgfalt und Disziplin, was von den pharmazeutischen Herstellern geschätzt wurde. In der DDR konnten viele Studien bereits nach zwei Jahren abgeschlossen werden. In der damaligen BRD dauerte es eher drei bis vier Jahre.
Das heißt, alle staatlichen Organe der DDR haben das Geschäft mitgetragen?
Ja, es gab allerdings vereinzelte Stimmen, die die Auftragsstudien nicht guthießen. Zum einen fürchtete man die vielen Kontakte zu Westdeutschen. Zum anderen wollte man keine Begehrlichkeiten für westdeutsche Medizinprodukte wecken, die in der DDR nicht befriedigt werden konnten. Daneben gab es auch grundsätzliche Vorbehalte, ob es legitim sei, mit einem kapitalistischen Staat derartige Geschäfte zu machen.
Insgesamt aber klingt Ihr Bericht fast erfreulich, nach einer guten Kooperation über die Grenzen hinweg. Man mag das kaum glauben . . .
Nun ja. Die zentralistischen Strukturen der DDR wurden auch in anderen Bereichen von der westlichen Wirtschaft gerne genutzt und ausgenutzt. Und man muss auch berücksichtigen, dass viele Kontakte nie abgerissen waren. Die DDR war näher am Westen, als es aus Bonner Perspektive oft aussah.
Sie haben Hinweise auf etwa 900 Auftragsstudien in der DDR erhalten, aber nur zehn davon genauer untersucht. Warum?
Wir haben nur zu etwa 300 Medikamententests umfangreiche Unterlagen gefunden. Besonders häufig wurden Antibiotika, Blutdrucksenker und Hormonpräparate getestet. Zu zehn Wirkstoffen haben wir Fallstudien durchgeführt. Pro Fallstudie haben wir mehrere Tests zu ein und demselben Medikament untersucht. Wir decken also einen größeren Bereich ab. Und wir haben darauf geachtet, vor allem die möglicherweise kritischen Tests zu überprüfen. Jene mit besonders gefährdeten Personen wie Kindern und Psychiatriepatienten oder solche, die schon in den Schlagzeilen waren. Wir haben allerdings auch in diesen Fällen keine systematischen Gesetzesverstöße festgestellt.
Aber wenn Sie nur Unterlagen zu 300 Studien gefunden haben, wo ist der Rest geblieben?
Gut dokumentiert sind nur die Studien ab dem Jahr 1982. Für die Zeit davor ist die Überlieferung brüchig. Es ist gut möglich, dass bei Unternehmen noch historisch interessante Unterlagen lagern. Es ist allerdings eine Sisyphusarbeit, diese zu erschließen. Ist Ihre Arbeit an dem Thema jetzt beendet?
Mich persönlich lassen die Medikamententests noch nicht los. Ich möchte in der einen oder anderen Form weiterforschen. Es gibt noch offene Fragen. Zum Beispiel wurden einige Begleit- oder Nebenstudien nach Prag ausgelagert, ich weiß nicht, warum. Ich würde auch gerne mehr über die Probanden wissen. Wir haben versucht, mit ehemaligen Studienteilnehmern Kontakt aufzunehmen. Das ist uns leider nur in recht wenigen Fällen gelungen. Es wäre auch gut, mehr Krankenakten aus dieser Zeit einsehen zu können. Auch sie sind Teil unserer bewegten Vergangenheit.