Multiple Persönlichkeiten:Woher kam die große Faszination an der Störung?

Lesezeit: 4 min

Auch Harald Freyberger, Direktor der psychiatrischen Klinik der Universität Greifswald, hält die Trauma-Theorie für "ein valides Konzept". Unter extremer Belastung könne der Mensch Gefühl und Verstand voneinander trennen. Er könne Teile seines Gedächtnisses, seiner Wahrnehmung oder seines Identitätsgefühls von seinem Bewusstsein abspalten. Doch heute seien diese Symptome weniger stark ausgeprägt als früher, zum einen, weil der Umgang mit Missbrauch und Misshandlungen offener geworden ist: "Die Patienten sind eher bereit über solche Erfahrungen zu sprechen, damit gelingt die Integration der abgespaltenen Funktionen leichter." Zum anderen auch, weil Therapeuten heute mehr Erfahrungen mit dissoziativen Störungen haben.

Denn, so kommen Freyberger wie Schmahl den Kritikern ein Stück entgegen, Therapeuten können die Spaltungen verstärken, sei es aus Faszination über die seltene Erkrankung, sei es aus dem Versuch heraus, separate Persönlichkeitsteile einzeln zu therapieren. Dies passierte vor 30 Jahren häufiger als heute, sagt Freyberger, und dürfte zur Genese der spektakulären Fälle beigetragen haben.

Auch wenn die Positionen versöhnlicher und die Debatten sachlicher geworden sind, gibt es noch immer Fachleute, die gänzlich an der Existenz der Krankheit zweifeln. Komplett ausräumen kann man ihre Einwände schwerlich, denn noch immer beruhen Erkenntnisse über die Störung eher auf klinischer Erfahrung denn auf belastbarer Forschung.

Nach wie vor ist nicht einmal klar, wie verbreitet die Erkrankung überhaupt ist. "Saubere Erhebungen zur Häufigkeit gibt es nicht", sagt Freyberger. Bildgebende Untersuchungen haben in den vergangenen Jahren Hinweise auf abweichende anatomische Merkmale und Funktionsweisen im Gehirn von dissoziativ Erkrankten erbracht. Doch differieren sowohl Untersuchungsmethoden als Ergebnisse so stark, dass man kaum allgemeingültige Erkenntnisse ableiten kann.

Spekulativ bleibt auch, was die enorme Faszination an der Diagnose hervorgerufen hat. Christian Schmahl hält die damaligen psychiatrischen Erklärungsmodelle für mitverantwortlich. Betrachtet man heute auch biologische Gegebenheiten wie die Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen als Ursache für psychiatrische Leiden, fokussierte man sich Ende des vergangenen Jahrhunderts vor allem auf soziale und lebensgeschichtliche Faktoren. Unter ihnen waren Traumatisierungen besonders populär. Bei Patienten und Laien konnte so der Eindruck entstehen, dass eine schwere Symptomatik zwangsläufig schwerwiegende Ursachen haben müsse und umgekehrt und so in einen Kreislauf immer spektakulärerer Entwicklungen münden.

Debbie Nathan, die das aktuelle Buch über den Fall Sybil geschrieben hat, greift angesichts der Tatsache, dass vor allem Frauen von den Spaltungsprozessen betroffen waren, zu einem eher feministischen Erklärungsansatz: Die neuen Möglichkeiten der Familienplanung und des beruflichen Aufstiegs stürzten Frauen damals in derartige Identitätskrisen, dass sie in der gespaltenen Persönlichkeit ihre Metapher erkannten.

Sicher scheint dagegen, dass die Diagnose fortbestehen wird. Bei der aktuellen Überarbeitung des amerikanischen Diagnosekatalogs DSM IV ist vorgesehen, mehrere Krankheitsbilder aus dem Standardwerk herauszunehmen. Die Dissoziative Identitätsstörung steht nicht auf der Streichliste.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema