Gesundheit online:Wie das Internet Schwerkranken hilft

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Tipps und Trost: Internetforen bieten einiges, das Patienten ähnlich wie in klassischen Selbsthilfegruppen helfen soll. Aber sind die Gespräche im Netz auch genauso nützlich?

Katrin Blawat

Kurz nachdem er seinen ersten Beitrag geschrieben hat, wird Heiko begrüßt: "Willkommen im Club!" In einem anderen Forum lesen neue Teilnehmer: "Erst einmal herzlich willkommen in unserer großen Familie." Diese Sätze sind oft der Auftakt zu einer langen, merkwürdigen Beziehung. Denn die meisten Mitglieder dieser großen Familien werden sich nie persönlich kennenlernen, oft nicht einmal miteinander sprechen. Dennoch wissen sie manchmal mehr übereinander als die leiblichen Verwandten. Das gehört zu den Spielregeln im virtuellen Club der Multiple-Sklerose-Kranken, der Brustkrebs-Patientinnen, in der virtuellen Familie der Rheumatiker und Diabetiker.

Patienten mit nahezu jeder schweren und chronischen Krankheit finden im Internet mindestens ein Forum, in dem sie sich austauschen können. Wie viele Betroffene davon Gebrauch machen, lässt sich nicht sagen, denn die Zahl der stillen Mitleser übertrifft die der aktiven Teilnehmer bei weitem.

Vor allem für Brustkrebspatientinnen ist inzwischen wissenschaftlich gut belegt, dass solche Foren das emotionale Wohlbefinden deutlich steigern können. Im Internet können sich Patienten Rat in praktischen Fragen holen:

Wie lassen sich am besten die kleinen Blutflecken aus der Kleidung von Diabetikern entfernen, die sich für die Insulinmessung regelmäßig in die Fingerkuppe piksen müssen? Was hilft am besten, wenn die Füße nach einer Chemotherapie schmerzen?

Aber auch: Was tun, wenn nachts die Angst hochkriecht, dass die nächste Bestrahlung wieder nicht wirkt? Wer seine realen Freunde und Verwandten vor den eigenen Sorgen schützen und sie nicht mit den immer gleichen Gedanken belästigen will, findet in den Foren geduldige Kommunikationspartner. "Meine Freunde sind wundervoll", sagt eine 34-Jährige, die an Unfruchtbarkeit leidet und an einer Studie der University of Nottingham teilnahm. "Aber sie können mir nicht helfen, weil sie nicht das Gleiche durchgemacht haben wie ich."

Vieles von dem, was Internetforen bieten, finden Patienten zwar auch in klassischen Selbsthilfegruppen. Wie eine Studie mit gut 1000 Brustkrebspatientinnen gezeigt hat, profitieren die Frauen von realen Selbsthilfegruppen ebenso gut wie von virtuellen - im Internet legen sie ihre Gefühle aber offener dar. Und was hilft eine Gruppe in Berlin, wenn man selbst in der Uckermark wohnt und wegen der Krankheit kaum noch mobil ist? Auch zeitlich machen die Internetforen unabhängig von ärztlichen Sprechzeiten oder dem üblichen Tagesrhythmus. Irgendein Forumsmitglied ist immer online; die Uhrzeit der Einträge zeigt, dass viele nachts verfasst werden.

Anders als in den virtuellen Diskussionsrunden von Netdoktor und ähnlichen Portalen, in denen sich die Teilnehmer häufig nur wenige Male begegnen, geben viele Mitglieder in den Foren für Chronisch- und Schwerkranke sogar einen Teil ihrer Anonymität auf. "Vor allem die Vielnutzer unterschreiben ihre Beiträge mit richtigem Namen, nennen Wohnort, Beruf und geben manchmal ein Profilfoto an", sagt Johannes Huber von der Universität Heidelberg. Der Urologe hat die Einträge im größten deutschen Forum für Patienten mit Prostatakrebs untersucht. Dabei zeigte sich, dass Patienten in vielen Fällen auch dann Trost und emotionale Unterstützung erhielten, wenn sie danach nicht ausdrücklich verlangt hatten. "Dabei gelten Prostata-Patienten in diesem Krankheitsstadium als psychisch recht stabil", sagt Huber.

Ob jemand von einem Onlineforum stärker emotionalen Zuspruch oder fachliche Information erwartet, hängt auch von seiner Krankheit ab. Bei seltenen Leiden, über die Laien nur schwer Informationen erhalten, sind den meisten Forennutzern vor allem medizinische Details wichtig, wie Analysen von Foren für Patienten mit Chorea Huntington, Fibromyalgie und einer seltenen Lebererkrankung gezeigt haben.

Doch ist es wirklich hilfreich, wenn medizinische Laien andere Laien informieren? Verbreitet sich auf diese Weise nicht auch eine Menge Unfug? "Zwar findet man auch hanebüchene Behauptungen im Forum", sagt der Heidelberger Urologe Huber. "Aber sie sind eher die Ausnahme." Wenn es um medizinische Ratschläge geht, klingen viele Einträge sehr zurückhaltend. Als eine MS-Patientin nach dem Sinn einer Psychotherapie fragt, antwortet ein anderer Forennutzer: "Ich halte eher wenig davon, aber das gilt nur für mich. Ich weiß, dass es bei manchen durchaus hilfreich ist."

Zudem stammte in der Heidelberger Studie mehr als ein Drittel aller Einträge von nur zehn Autoren. "Diese Vielnutzer haben oft ein großes Wissen über ihre Krankheit gesammelt", sagt Huber. Auf sie verweisen auch andere Forennutzer, die auf eine Frage stoßen, die sie selbst nicht beantworten können. Sätze wie "Dafür bin ich kein Experte, frag mal Mitglied XY" finden sich immer wieder.

Doch die Rund-um-die-Uhr-Hilfe im Netz birgt ein anderes Risiko: etwa wenn ein Patient seine virtuelle Familie nicht mehr gegen die reale Umwelt tauschen mag. "Das Forum kann süchtig machen", erzählte die Nutzerin eines Online-Portals für Unfruchtbare der Forscherin Sumaira Malik von der University of Nottingham. "Irgendwann habe ich aufgehört dort zu lesen. Es hat mir nicht mehr geholfen, sondern die Fixierung auf mein Problem verstärkt."

© SZ vom 05.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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