Zeitgenössischer Tanz:"Ich muss still sein"

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Hans Abrahamsen über "Schnee - 10 Kanons für 9 Instrumente", seine Komposition zu Nanine Linnings Tanz-Uraufführung "Duo".

Interview von Eva-Elisabeth Fischer

Zum ersten Mal wird ein integrales Musikstück des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen für den Tanz verwendet. Nanine Linning nennt ihr für die Festspielwerkstatt kreiertes Stück "Duo". Auf Vorschlag von Dramaturg Malte Krasting hat sie dafür Abrahamsens elf Jahre alte, gut einstündige Komposition "Schnee - 10 Kanons für 9 Instrumente" gewählt. Das Stück ist als Einstimmung zur Uraufführung von Abrahamsens Märchenoper "The Snow Queen" nach Hans Christian Andersen an der Staatsoper im Dezember 2019 gedacht. Abrahamsen erklärt im Gespräch die Prinzipien seiner Kunst.

SZ: Wie wichtig ist die Natur für Ihr kompositorisches Œuvre?

Hans Abrahamsen: Ich wurde immer schon von der Natur inspiriert. Gerade schreibe ich an einem neuen Stück, in dem ich mich mit Landschaften beschäftige.

Schnee wird ja erst einmal mit Stille assoziiert. Wollten Sie dieser Vorstellung lautmalerisch entgegenwirken? Haben Sie deshalb nach Klängen für splitterndes Eis, schneidende Kälte und das Glitzern einer Schneeflocke gesucht? All dies meint man jedenfalls herauszuhören.

Der erste Gedanke an Schnee ist das Weiß, das eine Landschaft bedeckt. In Musik übersetzt, ist das die Stille. Die Magie, die Poesie von Schnee liegt in der Transformation von Regen in Schneeflocken, der scheinbar unendlich vom Himmel fällt. Schnee kann auch sehr wild werden in Gestalt von Stürmen. Nach der Lektüre aller möglichen Literatur zum Thema hat mich das Phänomen Schnee und Winter immer mehr fasziniert.

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Laut John Cage gibt es keine wirkliche Stille, weil man letztlich immer noch den eigenen Herzschlag hört. Wollten Sie mit "Schnee" etwas hörbar machen, was man sonst nicht hört, ja nicht einmal wahrnimmt?

Wenn ich von Stille spreche, meine ich, dass Musik unseren Verstand zum Schweigen bringt. Wir werden still in unserem Inneren. Aber natürlich sind das zwei ganz verschiedene Dinge - die Stille in uns und die Stille in der Musik. Wenn die Musik sozusagen gefriert, verlangsamt sich alles, und damit verlangsamt sich unser Verstand. Wir erlangen einen anderen Geisteszustand.

Wenn Sie diese Art von Reduktion beschreiben, fallen mir automatisch Morton Feldmans "Nature Pieces" ein.

Sie haben Recht. In der Zeit, als Morton Feldmans Musik vom Kronos Quartett gespielt wurde, hat sie mich stark beeinflusst. Diese Musik ist in ihrer Langsamkeit wirklich magisch. Meine Musik setzt sich aus vielerlei Dingen zusammen, aber die Momente der Langsamkeit schlagen Löcher. Das könnte man mit Morton Feldman vergleichen.

In einer Notiz zu "Schnee" nennen Sie Johans Sebastian Bachs Kanons als Vorbilder. Meinen Sie das rein formal oder den Dialog des Menschen mit der Natur?

Heiner Goebbels hat einmal einen Bach-Kanon in einer seiner Kompositionen zitiert (Abrahamsen spielt ihn nach). In diesem Zusammenhang klang er unglaublich zeitgemäß und frisch. Wenn man nicht nur den einzelnen Stimmen folgt, sondern der Beziehung der Stimmen zueinander, dann hört man plötzlich eine Fülle von Melodien. Das ist genauso, wenn man dem Schnee beim Fallen zuschaut und dabei Linien von einer Schneeflocke zur nächsten zieht: Man erkennt plötzlich, was alles zwischendrin passiert. Bei Heiner Goebbels dauert dieser Bach-Kanon vielleicht eine Minute. Ich hingegen habe denselben Kanon zehn Minuten lang wiederholt, bis die einzelnen Verbindungslinien erkennbar wurden. Dieser Kanon war die erste Inspiration für "Schnee". Und dann habe ich natürlich "Die Kunst der Fuge" von Bach studiert. Von meinen Kompositionen kann man sagen, dass es im Hintergrund eine Menge Verbindungen gibt, die man nicht hört. Das ist bei der meisten Musik so: Die wichtigsten Dinge sind nicht hörbar, werden aber unbewusst mitgehört.

Woraus aber entsteht ein Kanon?

Es kann, wie bei Bach, etwas ganz Kleines sein, das man wachsen lässt. Insofern ist die Musik mit der Natur verbunden.

Bei "Schnee" scheint für mich das Zusammenspiel dreier Elemente wesentlich zu sein: die einzelnen Stimmen der Instrumente, der Rhythmus und eine emotionale Schicht, die automatisch damit einhergeht.

Ja, genau. György Ligeti sagte über sich selbst, er sei ein kühler Komponist. Gleiches könnte ich über mich sagen. Ich bin sehr kühl, sehr strukturiert, ich stelle für mich Regelkanons und Restriktionen auf. Aber was ich dabei immer anstrebe, ist die Entstehung von etwas sehr Emotionalem. Da kommt plötzlich etwas sehr Warmes hoch. Je kühler ich bin, desto emotionaler werde ich. Dann muss ich mich zurückhalten, eine Menge weglassen. Die Emotionen entstehen ganz von allein aus der Musik. Ich muss still sein als Komponist, um zu hören, was in der Musik passiert.

"Schnee" beginnt mit einem Dialog von Geige und Klavier. Daraufhin folgt ein schrilles, dicht am Steg gespieltes Violinsolo. Auf mich wirkt das ziemlich aggressiv, wie die bedrohliche Ankündigung des tumultuösen vierten Teils. Haben Sie das beabsichtigt oder folgt man da einer der unterbewussten Schichten?

Das ist beabsichtigt. Im ersten Teil folgt ganz präzise ein Ton dem anderen auf dem Klavier wie Schneeflocke auf Schneeflocke, wenn sie allmählich immer schneller fällt. In der Tat verweisen die schnellen auf der Violine gespielten Noten auf den vierten Teil, aber auch auf den letzten Kanon. Das ist das Interessante an der Musik, dass man in einem so langen Stück manchmal Dinge hinausschieben kann, andere aber, die erst viel später kommen, wiederum ankündigen.

Komponieren Sie jede Note aus? Oder gestatten Sie, wie zum Beispiel im genannten stürmischen vierten Teil, eine gewisse Aleatorik, also die freie Improvisation?

Ich schreibe alles ganz genau auf. Aleatorik kann ich nicht zulassen, da ich die Kontrolle über die Zeit behalten muss. Ich kann Zeit verlängern, kann sie erweitern oder raffen. Das ist ein Vorgang von allergrößter Präzision. Aleatorik verändert das Spiel jedes einzelnen Musikers. Meine Musik mag sehr einfach klingen, aber ihre Notation ist höchst kompliziert. Anders kann ich nicht das jeweils Richtige finden.

Nanine Linning hat ihre Choreografie "Duo" genannt, was auf die Struktur des Kanons in "Schnee" verweist. Haben Sie den Titel gemeinsam gefunden?

Nein, wir haben bisher noch nicht miteinander gesprochen. Aber ich bin sehr glücklich darüber, denn er lautet in voller Länge "Duo - For 16 dancers and 9 musicians" und hat die gesamte Idee von "Schnee" zum Inhalt. 16 ist 4×4, 9 ist 3×3 - ich mag dieses Rechenexempel.

Duo , 12. u. 13. Juli, 20 Uhr, 14. Juli, 18 Uhr, Reithalle, Heßstraße 132

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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