Verkehrsimmobilien:Mehr als nur Bahnhof

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Der Leipziger Hauptbahnhof bietet Reisenden und Besuchern das größte Angebot. 129 Flächen sind an Handel und Gastronomie vermietet. (Foto: Peter Endig/dpa)

Wo viele Menschen täglich ein- und umsteigen, entstehen auch Einkaufsmeilen. Anders als bei den üblichen Shopping-Centern wird hier vor allem gegessen, gern auch gut.

Von Stefan Weber

Alle müssen schnell wohin. Ins Büro, zur Uni, zum Fernreisezug, zum Geschäftstermin. An Bahnhöfen herrscht Tempo. Und häufig Gedränge. Mehr als 350 000 Reisende und Besucher tummeln sich jeden Tag am Hauptbahnhof in München. In Frankfurt sind es gut 370 000, und am Hamburger Hauptbahnhof ist die Frequenz noch höher: Bis zu 480 000 Menschen hasten täglich durch das riesige Gebäude am östlichen Rand der Stadt. Bereits vor 20 Jahren, als die Hamburger noch keinen Gedanken an die Elbphilharmonie verschwendeten und die Kicker des HSV noch um vordere Plätze in der Bundesliga mitspielten, war der Hauptbahnhof in der Hansestadt der meistfrequentierte Fernbahnhof der Deutschen Bahn - mit damals erst 300 000 Reisenden und Besuchern am Tag.

Vor allem Pendler sorgen dafür, dass die Frequenz an den großen Bahnhöfen kontinuierlich steigt. Untersuchungen zufolge fährt in den Kernstädten jeder dritte Arbeitnehmer mit Bus oder Bahn zum Job; im ländlichen Raum sind es gerade einmal fünf Prozent. Je besser die Bahninfrastruktur, umso höher die Nachfrage. Das zeigt auch die im Dezember 2017 in Betrieb genommene ICE-Strecke zwischen Berlin und München, die Monat für Monat neue Passagierrekorde aufstellt.

Die hohe Frequenz an den Bahnhöfen führt dazu, dass die einst in erster Linie als Verkehrsknotenpunkte konzipierten Immobilien immer stärker zusätzliche Funktionen übernehmen: als Einkaufsmeile, Nahversorger oder Treffpunkt. Frequenz ist eine wichtige Größe im Einzelhandel. Denn je mehr Menschen sich an einem Ort tummeln, umso größer ist die Chance für einen Ladenbetreiber, auf sich aufmerksam zu machen, Kunden in sein Geschäft zu locken und ihnen etwas zu verkaufen. Vor 15 Jahren hat kaum jemand im Handel groß über das Thema Frequenz geredet, die Verbraucher hatten ja keine Alternative zum Einkauf im Laden. Doch jetzt, wo immer mehr online bestellt wird, herrscht vielerorts zunehmend Leere in den Einkaufsstraßen. In einer Befragung des IFH Instituts für Handelsforschung gaben vor Kurzem drei Viertel der befragten Ladenbetreiber an, ihre Kundenzahlen seien gesunken. Jeder Dritte beklagte gar eine "stark" gesunkene Frequenz.

In einer solchen Situation sind 16 Millionen Menschen, die jeden Tag an einem der bundesweit etwa 5500 Zug-Haltepunkte ein- und aussteigen, für viele stationäre Händler eine Verlockung. Wer beispielsweise das Geschäft mit der schnellen Verpflegung beherrscht, kann an einem stark besuchten Bahnhof mit mehreren Tausend Kunden pro Tag rechnen. Tatsächlich eignet sich jedoch nur ein kleiner Teil der Stationen als Standort für Einzelhandel, Gastronomie oder Dienstleistung. Denn viele Haltepunkte verfügen nur über einen Bahnsteig, nicht aber über eine Empfangshalle. Zudem herrscht an kleinen Bahnhöfen häufig so wenig Betrieb, dass es sich nicht lohnt, hier ein Geschäft zu betreiben. So erwirtschaftet die Deutsche Bahn denn auch mehr als die Hälfte ihres Mietumsatzes mit den 25 größten Bahnhöfen.

Die größte Angebotsvielfalt für Reisende und Besucher bieten nach einer Analyse des Handelsforschungsinstituts EHI ("Travel Retail 2017") die Promenaden des Hauptbahnhofs in Leipzig mit 129 Mietflächen. Sie werden vom Hamburger Handelsimmobilienspezialisten ECE im Stil eines Shoppingcenters betrieben. An zweiter Stelle folgt mit deutlichem Abstand der Hauptbahnhof in München mit 85 Mietern, gefolgt von Hamburg und Frankfurt mit jeweils 77 Mietern.

Der Handel stellt sich auf die Kundenströme ein. Los geht es oft schon um 5 Uhr morgens

Der Deutschen Bahn ist die Vermarktung ihrer Flächen in den Gebäuden sehr wichtig. Sie hat viele Stationen, darunter auch zahlreiche kleine wie beispielsweise im Odenwald-Städtchen Amorbach, zu sogenannten "Erlebnisbahnhöfen" umgebaut und betont in selbst verlegten Magazinen, dass Bahnhöfe mehr sein wollen als Ein- und Ausstiegspunkte. Mitunter können Bahnhöfe ihr Angebot jedoch aufgrund baulicher Restriktionen bei den teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammenden Gebäuden nicht erweitern. Beispiel Düsseldorfer Hauptbahnhof: Obwohl die Zahl der Reisenden und Besucher hier in den vergangenen 20 Jahren um 25 Prozent gestiegen ist, ist die Zahl der Mieter heute noch ebenso hoch wie 1998.

Lange Zeit war der Einzelhandel die am häufigsten vertretene Branche in großen Bahnhöfen, gefolgt von der Gastronomie. Doch in den vergangenen Jahren haben sich die Gewichte verschoben. Der Gastronomieanteil ist gestiegen (in Nürnberg beispielsweise seit 2014 von 47 auf 63 Prozent) oder zumindest konstant geblieben. Von den 1122 Mietverhältnissen in den bundesweit größten 23 Bahnhöfen, die das EHI in seiner Untersuchung auflistet, gehören 48 Prozent der Gastronomie an. Meist handelt es sich um Bäckereien, Schnellrestaurants oder Imbissstände. Auf Einzelhändler entfallen 43 Prozent der Nutzungen. Hier dominieren Lebensmittelhändler, Zeitungs- und Schreibwarenverkäufer sowie Anbieter von Drogerieartikeln. Neun Prozent der Mieter sind Dienstleister, etwa Banken, Friseursalons oder Reisebüros.

Im Vergleich mit anderen Immobilien-typen, beispielsweise Shoppingcentern oder Flughäfen, fällt auf, dass nirgendwo sonst der Anteil der Gastronomie so hoch ist wie in Bahnhöfen. In Shoppingcentern sind je nach Größe lediglich 15 bis 17 Prozent der Mieter Gastronomen. Dafür dominiert hier der Einzelhandel mit einem Anteil von bis zu 77 Prozent.

Gemessen an der Mietfläche hat in den meisten Bahnhöfen jedoch nach wie vor der Einzelhandel die Nase vorn. Im Durchschnitt entfallen 53 Prozent der Fläche auf Einzelhandelsnutzungen. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede. Die Spanne reicht von Karlsruhe (21 Prozent) über München (35 Prozent) bis Dresden (71 Prozent) und Leipzig (75 Prozent). Die einzelnen Ladenflächen sind häufig nicht größer als 90 oder 100 Quadratmeter. In ihren City-Geschäften verfügen die Händler meist über sehr viel mehr Platz. Also müssen sie ihr Konzept anpassen, verkleinern. Dazu gehört, sich genau zu überlegen, welche Artikel aus ihrem Sortiment an Bahnhöfen gefragt sein könnten und welche nicht. Bei Mode zum Beispiel ist das Kriterium: Was lässt sich schnell und ohne großen Aufwand anprobieren? Die Gastronomie belegt im Mittel 39 Prozent der Mietflächen in Bahnhöfen. Spitzenreiter ist der Hauptbahnhof München mit einem Anteil von 56 Prozent.

Für Laden- und Gastronomiebetreiber hat das Geschäft an Bahnhöfen seine Tücken. Zwar sorgen Reisende, Besucher und Beschäftigte verlässlich für eine hohe Frequenz. Aber die Zahl der Fahrgäste schwankt im Tagesverlauf stark. An Wochentagen herrscht vor allem frühmorgens und ab dem späten Nachmittag sehr viel Betrieb, wenn Berufspendler unterwegs sind. Auch am Wochenende und in Ferienzeiten ist an Bahnhöfen besonders viel los. Zu anderen Zeiten ist es dagegen ruhiger. Auf dieses Auf und Ab müssen sich Geschäftsleute einstellen. Das beginnt damit, dass sie die Zahl der Mitarbeiter an den voraussichtlichen Kundenstrom anpassen müssen. Wer im Bahnhof unterwegs ist, hat wenig Zeit. Er wird sich nicht für einen Kaffee anstellen, wenn sechs oder sieben Kunden vor ihm an der Reihe sind. Auch die langen Öffnungszeiten bedeuten Herausforderungen. Los geht es an vielen Standorten bereits um 5 Uhr am Morgen. Schluss ist erst spät am Abend.

Für Verkehrsimmobilien gelten besondere technische Vorschriften. Insbesondere die Anforderungen an den Brandschutz sowie an Fluchtwege und Lüftungsanlagen zur Geruchsvermeidung sind hier sehr viel strenger als für Standorte anderswo. Das erfordert hohe Investitionen. Die größte Herausforderung an einen Bahnhofsstandort, so sagen insbesondere Lebensmittelanbieter und Imbissverkäufer, ist die Logistik. Lager- und Stellflächen sind knapp. Dennoch muss ständig irgendwo Ware aufgefüllt und ergänzt werden. Es soll möglichst keine Regallücken geben, schließlich ist die Konkurrenz häufig nur wenige Schritte entfernt.

© SZ vom 09.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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