Stadtplan München:Kunst und Kuchen

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(Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Die Lothringer Straße im sogenannten Franzosenviertel in Haidhausen wirkt wie eine ruhige Wohnadresse, birgt jedoch so manche Überraschung.

Von Ingrid Weidner

Nebel verhüllen den Weißenburger Platz. Der stattliche Brunnen trägt sein Winterkleid aus groben Holzbrettern, die Blumenbeete davor sind längst leergeräumt. Die Buden des Weihnachtsmarktes haben längst den sommerlichen Charme des Platzes verscheucht.

Die Lothringer Straße nimmt am Weißenburger Platz ihren Anfang. Auf den ersten Blick wirkt die nur einige hundert Meter lange Lothringer Straße wie eine kleine, ruhige Wohnstraße. Die schmalen Pappeln zu beiden Straßenseiten überragen längst die oberen Stockwerke der Mietshäuser. Die meisten Altbauten präsentieren sich hübsch herausgeputzt, dazwischen ein streng gestalteter Neubau, der über seinen offenen Hof die Lothringer mit der Rosenheimer Straße. Doch ein prominent angebrachtes Verbotsschild lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Besucher und Kinder unerwünscht sind.

Zu so viel Idylle und kleinbürgerlicher Behäbigkeit will die grausige Geschichte vom Elternmord in der Lothringer Straße 11 nicht ganz passen. Der 16-jährige Joseph Apfelböck erschoss im Sommer 1919 zuerst seine Mutter, später den Vater, zimmerte eine Holzkiste für die Leichen und beließ sie längere Zeit in der Wohnung. Nachbarn, die sich über das Gehämmer und den Gestank beschwerten, tischte er Ausreden auf. Nur zwei seiner Freunde wurden misstrauisch und wandten sich mit ihrem Verdacht an das örtliche Polizeirevier, das damals am Weißenburger Platz war. Schließlich bestätigte sich ihr Verdacht. Reue zeigte der Mörder auch später vor Gericht keine. Bertolt Brecht inspirierte die Geschichte zu seiner Ballade "Apfelböck oder die Lilie auf dem Felde". Am Haus mit der gleichen Nummer bietet heute ein Psychoanalytiker seine Dienste an.

Der Mörder Joseph Apfelböck inspirierte im Sommer 1919 Bert Brecht zu einer Ballade

Haidhausen war damals zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Arme-Leute-Gegend. 1871 eröffnete der Ostbahnhof seine Tore, in der Nähe siedelten sich viele Industriebetriebe an, die wiederum Menschen auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt lockten. Die Wohnungsnot war groß. Das nutzte der Geschäftsmann Karl von Eichthal, der als Mitglied der Ostbahnhof-Gesellschaft früh von den Eisenbahnplänen wusste und im Vorfeld damals wertlose Grundstücke zwischen Rosenheimer Straße und Orleansplatz aufkaufte. Vom Ostbahnhof ausgehend entwarf der Stadtplaner Arnold von Zenetti das neue Viertel auf dem Reißbrett. Die 1872 angelegte, großzügig gestaltete Wörthstraße bildet eine der Hauptverbindungsachsen des Quartiers. Sie ähnelt einem Boulevard. Großzügige Stadthäuser im Stil der Gründerzeit säumen vor allem den mittleren Straßenabschnitt mit dem Bordeaux-Platz.

Die Weißenburger Straße bildet die zweite wichtige Verbindungsachse. Doch den anderen Straßenzügen fehlt das großzügige Raster. Über die schmalen Wohnstraßen, kleinen Hinterhöfe und schnell hochgezogenen Wohnblöcke rümpften damals viele Münchner Bürger die Nase. Trotzdem konnten sich viele Arbeiterfamilien dort keine eigene Bleibe leisten, sondern mussten sich oft mit anderen, in ähnlich prekären Verhältnissen lebenden Personen eine Wohnung teilen. Hundert Jahre später wurden in Haidhausen ganze Straßenzüge saniert, und die Altbauwohnungen gelten schon lange als begehrte Adresse.

Alle Straßen im Viertel sind nach französischen Städten oder Landstrichen benannt. Allerdings geschah dies nicht wegen der heute gepflegten Deutsch-Französischen Freundschaft. Ganz im Gegenteil. Die Namensgebung folgte einer chauvinistischen Gesinnung aufgrund des gewonnenen deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Namenspate der Lothringer Straße war das französische Lorraine, ein Landstrich, der von der Champagne bis zum Westrand der Vogesen reicht und nach dem Friedensschluss an das neugegründete deutsche Kaiserreich fiel, nach dem ersten Weltkrieg 1919 wieder an Frankreich.

Französischer Lebensstil und kulinarische Reminiszenzen an das Nachbarland locken Feinschmecker heute in die Lothringer Straße. In der kleinen Bäckerei "Obori" gibt es seit 2007 typisch französische Spezialitäten, die das japanische Ehepaar Hinako und Michitoshi Obori dort bäckt. Aber auch solides Vollkornbrot haben sie im Angebot. Cafétische und Stühle im übersichtlichen Verkaufsraum mussten einer Kühltheke weichen, in der Frau Obori jetzt ihre kleinen Fruchttörtchen und Kuchen präsentiert. Lohnte sich das Café nicht? "Zu viele Leute", winkt die Konditormeisterin ab. Ohne das Café bleibe ihr mehr Zeit für ihre Leidenschaft, nämlich das Backen, erzählt sie. Das japanische Ehepaar mit den deutschen Meistertiteln fühlt sich in seiner Wahlheimat München wohl. "Viele kommen aus der ganzen Stadt zu uns und kaufen ein", berichtet sie.

Seit gut einem Jahr gibt es ein paar Häuser weiter günstigen Kaffee, kostenloses Wlan, Erfrischungsgetränke, wechselnde Ausstellungen und jede Menge Kunstmagazine. Im Sommer 2014 haben die beiden Kuratoren Dana Weschke und Jörg Koopmann die städtische Galerie "Lothringer 13‟" übernommen und am Konzept geschraubt. In der Ausstellungshalle im Hinterhof wird zeitgenössische Kunst gezeigt, im ehemaligen Laden im Vorderhaus gibt es eine Art Lese-Café. "Wir möchten die Galerie einladender gestalten und die Nachbarschaft einbeziehen", erklärt Weschke und ergänzt: "Es ist weder ein Café noch ein Buchladen, sondern soll sich als Ort zum Verweilen etablieren."‟ Die ausgestellten Bücher ergänzen die Ausstellungen im Hinterhof, der großzügig gestaltete, ehemalige Laden mit seinen großen Schaufenstern bietet genügend Platz zum Arbeiten oder um sich zu verabreden. Die Galerie steht allen kostenlos offen. Mit Lesungen, Filmvorführungen oder Diskussionsrunden laden die Kuratoren Nachbarn und Kunstinteressierte ein. Gerade tüfteln sie an einer Kooperation mit der Musikhochschule. "Wir wollen das kulturelle Netzwerk noch stärker knüpfen", sagt Jörg Koopmann.

Ein paar Häuser weiter an der Ecke Pariser Straße eröffnete Bettina Roetzer vor vier Jahren ihren "Buchpunktladen". In dem 58 Quadratmeter kleinen, in drei Verkaufsräume aufgeteilten Geschäft strömen an diesem Tag gegen Mittag mindestens zehn Kinder. Eines der Kleinen klagt über einen schmerzenden Arm, ein anderes fühlt sich unwohl. Roetzer kümmert sich um die beiden und ermutigt die anderen, ihren Weg zum Kinderhaus fortzusetzen. "Wir sind eine der Anlaufstellen für die Kinder, die von der Grundschule in der Balanstraße zum Kinderhaus unterwegs sind. In den vier Jahren ist es das erste Mal, dass sie Hilfe brauchen", meint sie. Schon bald steht die Betreuerin der Kinder in der Tür und holt ihre Schützlinge ab. Roetzer fühlt sich mit ihrem Buchladen gut im Viertel verankert, viele Stammkunden besuchen den Laden und auch die Nachbarschaftshilfe funktioniert. "Mir ist der Laden in den Schoß gefallen", sagt sie. Ein Freund rief an und erzählte von dem leer stehenden Eckgeschäft. Roetzer schaute in Haidhausen vorbei, sie bewarb sich und erhielt trotz der 50 Mitbewerber den Zuschlag. "Und plötzlich hatte ich meinen ersten eigenen Laden."‟ In ihrer Sortimentsbuchhandlung gibt es nur Handverlesenes. "Ich verkaufe nur, was mir selbst gefällt, bestelle aber alles, was sich die Kunden wünschen."‟ Versandhändler schrecken sie nicht, sie setzt auf gute Beratung. Manche Kunden kämen extra deswegen in die Lothringer Straße.

© SZ vom 18.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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