Slums:Menschen am Rande der Stadt

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Slum-Bewohner in Bangalore, der drittgrößten Stadt Indiens. Von ihren Hütten ist nicht mehr viel übrig, nachdem die Stadt im Juli 250 solcher illegal errichteten Unterkünfte niederreißen ließ. In Bangalore leben etwa zwölf Millionen Menschen, Hunderttausende davon in Elendsvierteln. (Foto: Manjunath Kiran/AFP)

Illegal errichtete Siedlungen sind in vielen Metropolen Normalität. Eine Ausstellung zeigt das risikoreiche Leben der Bewohner und macht Verbesserungsvorschläge.

Von Joachim Göres

Städte entwickeln sich langsam, geprägt von den Vorgaben der Planer. Wer dieser Überzeugung ist, wird in einer vor Kurzem eröffneten Ausstellung in Hannover eines besseren belehrt. Lehrende und Studierende der Landschaftsarchitektur mehrerer deutscher Universitäten haben sich schnell wachsende Metropolen in verschiedenen Erdteilen angeschaut und sich dabei auf arme Viertel konzentriert. Die Ausstellung, die in ähnlicher Form 2017 in München zu sehen war, geht wichtigen globalen Fragen nach: Wie wirken sich Verstädterung und Klimawandel aus, was kann man gegen Überflutungen oder zunehmende Trockenheit tun, wie kann man die Situation der oft auf engstem Raum lebenden Menschen am Rande der Millionenstädte verbessern? Im Gespräch mit den Beteiligten suchen die Forscherteams mit ihren Studenten nach Lösungen. Ihre Analysen und Konzepte präsentieren sie anhand von Fotos, Modellen, Entwürfen und erläuternden Texten im Museum Schloss Herrenhausen.

Südöstlich von Madrid leben etwa 40 000 Menschen in der Canada Real Galiana im größten Slum Europas. Landarbeiter, Roma und Arbeiter aus Nordafrika haben sich in den letzten 60 Jahren hier provisorische Hütten oder sorgfältig gemauerte Häuser gebaut. Viele der Bewohner suchen in der benachbarten Mülldeponie nach verwertbarem Material, um über die Runden zu kommen. Zuwanderer aus Marokko haben damit begonnen, sich Gärten für die eigene Gemüseproduktion anzulegen. Über den Bewohnern schwebt die Unsicherheit vor dem immer wieder praktizierten Abriss ihrer illegal errichteten Behausung durch die Polizei.

Ein weiterer Konfliktpunkt ist das auf der Anwärterliste des Unesco-Welterbes stehende Netz von Landschaftswegen, über die einst Millionen von Schafen getrieben wurden und die heute noch für die Viehtrift genutzt werden - historische Zeugen wie steinerne Hirtenhütten, Wollwaschhäuser und Tränken sind durch neue Hütten bedroht. Ist es möglich, ohne Vertreibung der Bewohner den historischen Charakter dieser Gegend zu erhalten? Die Studierenden sind davon überzeugt, doch die Zukunft muss zeigen, ob der Abriss sowie der zügellose Zuzug wirklich gestoppt werden können.

Auch in deutschen Innenstädten wird es immer heißer

Die brasilianische 21 Millionen-Einwohner-Metropole São Paulo rechnet für das Viertel Tamanduatei mit 150 000 mehr Menschen bis 2050. Gegen die Hitzeinseln plant die Stadt dort auf 100 Hektar acht neue Parks. Die dabei entstehenden Flächen sollen 300 000 Kubikmeter Regenwasser aufnehmen - in der Regenzeit steht Sao Paulo zu großen Teilen unter Wasser, weil der Regenwald abgeholzt sowie Flüsse und Bäche kanalisiert wurden. Die Studenten schlagen für den stinkenden Fluss Tamanduatei ein neues Flussbett vor, um das jetzige Betonbett bei Hochwasser zu fluten. Die Idee scheitert an den Kosten - der Boden in der wachsenden Stadt ist Spekulationsobjekt. Die Parks sollen auch zur Auflockerung beitragen, denn viele Menschen leben im Stadtteil auf engstem Raum in illegal angelegten Hütten, den Favelas, ohne jegliche Grünflächen.

Die am Hang liegende Millionenstadt Medellin in Kolumbien ist nach längeren Regenfällen immer wieder von Erdrutschen mit zahlreichen Toten betroffen. Besonders bedroht sind am Stadtrand 45 000 Häuser, die von Bürgerkriegsflüchtlingen ohne Baugenehmigung in den Steilhängen trotz des Risikos errichtet wurden. "Wenn ich dageblieben wäre, von wo ich herkomme, dann wäre ich jetzt sicher tot. Aus meiner Sicht sind die Erdrutsche ein Übel, mit dem ich leben kann" - eine typische Antwort eines Bewohners im Interview mit den Studierenden. Ihr Konzept sieht eine Reduktion des Risikos vor: Bodensensoren sollen vor Erdrutschen warnen, unbesiedelte Flächen durch Wiederaufforstung sicherer gemacht werden, Regenwasserabläufe durch Drainage beseitigt werden, der Anbau von Bambus in den weit verbreiteten Gärten wird zur Stabilisierung des Bodens empfohlen.

In der ruandischen Hauptstadt Kigali wohnen zwei Drittel der Bevölkerung in ungeplanten Siedlungen, 63 Prozent der Stadtfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Viele Menschen leben vom Gemüseanbau - die Überschwemmungen der Regenzeit behindern den Anbau aber über Wochen, fehlende Anschlüsse ans Abwassersystem und unzureichende Müllentsorgung beeinträchtigen den Anbau ebenfalls. Im Stadtteil Agatare soll durch mehr Regenspeicherkapazität und Mülltrennung die Situation verbessert werden.

"Je länger ich mir die Ausstellung anschaue, umso mehr Bezüge sehe ich zu Deutschland", sagt Christian Werthmann, Professor für Landschaftsarchitektur an der Universität Hannover, der die Kontakte nach Medellin und Sao Paulo knüpfte. Über allem steht der Klimawandel: Auch in deutschen Innenstädten wird es immer heißer - umso wichtiger sind grüne Zonen. Eine besondere Rolle spielen für ihn dabei die vielen Gartenkolonien. "Besucher aus Südamerika äußerten sich bei ihrem Rundgang durch Hannover erstaunt über die vielen Favelas mitten in der Stadt. Als sie hörten, dass das Kleingärten sind, in denen die Menschen nicht leben, sondern wo sie ihre Freizeit mit Blumenzucht und Gemüseanbau verbringen, waren sie hellauf begeistert und wünschten sich ähnliche Anlagen bei sich zu Hause."

In Sao Paulo können die meisten Menschen von Gärten nur träumen

Die Realität sieht anders aus: In São Paulo können die meisten Menschen von Gärten in ihrem Stadtviertel angesichts hoher Bodenpreise nur träumen. Und in Deutschland geraten Kleingartensiedlungen in Ballungsräumen immer mehr unter Druck. "Die Bodenpreise steigen auch bei uns, zudem herrscht in vielen Großstädten Wohnungsnot und es soll mehr gebaut werden. Aus den untersuchten Städten sollten wir lernen, dass auch wir mehr und nicht weniger Grünflächen in den Städten brauchen und deswegen die Finger von den Kleingärten lassen", sagt Werthmann.

Auch in deutschen Städten kommt es nach Starkregen immer häufiger zu Überschwemmungen wie jüngst in Wuppertal. "Es gab in vielen Städten Programme, um Flächen zu entsiegeln. Außerdem gibt es zum Beispiel in Stuttgart bei Neubauten die Pflicht zur Dachbegrünung, damit die Dächer bei Starkregen zumindest einen Teil des Wassers aufnehmen können. Die Erfahrung in anderen Erdteilen zeigt, dass man bei uns bei diesen Aktivitäten nicht nachlassen darf", betont Werthmann.

Gleichzeitig nehmen die Tage mit großer Trockenheit zu. "Bei der Anlage neuer öffentlicher Gärten planen wir so, dass eine Bewässerung nicht nötig ist", sagt Werthmann und ergänzt: "Bei uns wächst die Akzeptanz, dass bei großer Hitze öffentliche Rasenflächen irgendwann braun werden." Gartenbesitzer dürften weiter ihre Erdbeeren bewässern - solange nicht mehr Wasser entnommen wird als sich neu bildet. Werthmann: "Kommunen müssen klar sagen, wenn das Wasser knapp wird. Pestizide und Dünger müssen im Garten tabu sein, damit das Grundwasser nicht belastet wird."

Die wichtigste Erkenntnis ist für ihn aber eine andere: "Die Menschen wollen überall frühzeitig an Entscheidungen beteiligt werden, die sie betreffen. Das haben die Erfahrungen zum Beispiel mit dem Tempelhofer Feld gezeigt. Wenn man Menschen von Fachleuten erarbeitete Pläne vorsetzt, geht das immer häufiger schief."

Die Ausstellung "Draußen. Landschaften in der globalen Verstädterung" ist bis zum 17. 2. 19 im Museum Schloss Herrenhausen in Hannover zu sehen, geöffnet bis Ende Oktober täglich 11-18 Uhr, ab November donnerstags bis sonntags 11-16 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Begleitband ("Draußen. Landschaftsarchitektur auf globalem Terrain") unter der ISBN 978-3-7757-4258-0 erschienen.

© SZ vom 17.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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