Höhenangst:Panik im Büro

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Gläserne Plattform für Schwindelfreie: Der Kuala Lumpur Tower ist mit 421 Metern der höchste Fernsehturm von Malaysia und Touristenattraktion. (Foto: Ahmad Yusni/dpa)

Vielen bricht der Schweiß aus, wenn sie von hohen Gebäuden herunterschauen müssen, und manche verlieren dadurch sogar ihren Job. Was man dagegen tun kann.

Von Felicitas Witte

Ihre Hände sind nass, das Herz pocht rasend, sie bekommt keine Luft. Ein großes Gefühl der Panik überkommt sie, sobald sie in höhere Stockwerke fahren muss. Sie ist Eventmanagerin in Zürich, und viele ihrer Kunden lieben Anlässe in Dachrestaurants wie dem Clouds im 32. Stock des Prime-Towers. Die Begeisterung kann die Frau nicht teilen. Sie leidet unter Höhenangst, Akrophobie, vom griechischen ákron für Gipfel und phobos für Angst. Es wird immer schlimmer. Sie kann vor Anlässen in der Höhe nicht mehr schlafen, muss sie absagen. "Erst nachdem sie ihren Job verloren hatte und depressiv wurde, kam sie auf die Idee, dass sie professionelle Hilfe benötigt", erzählt Michael Rufer, Professor für Psychosoziale Medizin an der Uniklinik in Zürich.

Höhenangst gehört zu den spezifischen Ängsten, bei denen man sich vor konkreten Dingen oder Situationen
fürchtet wie vor Spinnen, Spritzen oder Hunden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat schätzungsweise während ihres Lebens einmal eine Art von spezifischer Phobie. Wie viele davon unter Höhenangst leiden, ist nicht systematisch untersucht. "So eine Angst kann das Leben extrem einschränken", sagt Borwin Bandelow, Professor für Psychiatrie an der Uni Göttingen. Er erinnert sich an einen Patienten, der wegen seiner Höhenangst nicht mehr mit dem Fahrrad zur Arbeit über eine Flussbrücke fahren konnte.

Ein Geschäftsessen im Dachrestaurant? Geht gar nicht

Die Neigung zur Höhenangst scheint bei einem Teil der Betroffenen angeboren zu sein. "Hinzu kommen bei manchen ein oder mehrere stark Angst machende Erlebnisse als Kind", erklärt Rufer. Bei anderen tritt die Höhenangst während Lebensphasen auf, in denen der Betroffene psychisch stark belastet ist. Dass einem in der Höhe schwindelig wird, ist eigentlich normal. "In der Höhe sind keine Objekte in der Nähe, die wir mit den Augen gut fixieren können - dann fühlt sich jeder etwas instabil", sagt Rufer. Löst dieser Schwindel jedoch Angst aus und denkt der Betroffene: "Ich könnte die Kontrolle verlieren und fallen", kann ein Teufelskreis entstehen: Man beobachtet sich überbesorgt selbst, spürt Herzklopfen und Schwindel, was wiederum die Angst verstärkt.

Wie sich das anfühlt, können Leute ohne Höhenangst nicht verstehen. Man weiß, die Angst ist unbegründet, denn man stürzt nicht vom Hochhaus, nicht aus der Seilbahn, nicht von der Bergwand. Doch das Gefühl der Panik lässt sich mit solchen logischen Gedanken nicht unterdrücken. Entscheidend für das Erleben von Furcht im Gehirn ist die Amygdala, ein Gebiet im Inneren des Gehirns. "Wenn wir eine Situation als gefährlich bewerten, gelangt diese Information blitzschnell an die Amygdala", erklärt Rufer. Daraufhin werden Stresshormone ausgeschüttet und das vegetative Nervensystem wird aktiviert, was die typischen Angstsymptome auslöst. Im Gehirn werden solche Erfahrungen gespeichert. Diese Erinnerungen können wieder wach werden und ähnliche emotionale und körperliche Reaktionen auslösen, etwa wenn wir einen schweren Unfall erleben und später an den Ort des Unfalls zurückkehren.

So ist es auch mit der Angst. Irgendwann hat das Hirn "gelernt", überempfindlich auf Situationen in der Höhe zu reagieren. "Höhenangst per se muss nicht schlimm sein, man kann ja oft die Angst auslösenden Situationen meiden", sagt Rufer. "Bei manchen geht das aber nicht, und sie kommen im Alltag nicht mehr klar." So musste einer seiner Patienten jedes Geschäftsessen in Dachrestaurants absagen, er konnte sogar die Treppen zu seinem Büro nicht mehr hochgehen aus Angst, in das offene Treppenhaus zu fallen. Manchmal kann das so weit gehen, dass die Betroffenen ihren Arbeitsplatz verlieren und sich auch privat von Aktivitäten zurückziehen.

Höhenangst kann man loswerden - mit der richtigen Therapie. "Man braucht das natürlich nur zu machen, wenn man es will oder einen hohen Leidensdruck spürt", sagt Peter Zwanzger, Professor für Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Uni in München. Am besten hilft kognitive Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt auf Konfrontation. "Wichtig dabei ist, dass man die Angst so lange aushält, bis sie nachlässt." Man muss die Angst auslösende Situation so lange ertragen, bis das Gehirn "lernt", nicht mehr mit überschießendem Stress zu reagieren. Was das bedeutet? Man hängt zitternd und schweißgebadet an der Felswand, das Herz schlägt bis zum Hals, man will einfach nur auf den festen Boden. Doch dann passiert das Erstaunliche: Die Angst verschwindet. Steht man auf dem Gipfel, durchströmt einen ein Gefühl großen Glücks und man ist sehr stolz, es geschafft zu haben. "Ich versuche, viel Vertrauen zu geben, bis der Betroffene das selbst lernt", sagt Bergführer Kurt Stauder. "Ich versichere immer wieder, er sei ganz fest gesichert und werde nicht fallen. Und ich rate, tief ein- und auszuatmen - da lässt der Stress nach."

Viele haben verständlicherweise Angst, sich der Angst auszusetzen, erzählt Psychiater Bandelow. "Sie fürchten, einen Herzinfarkt zu bekommen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber praktisch null." Nur wer Herzprobleme habe, solle vor einer Konfrontationstherapie mit seinem Arzt sprechen. "Natürlich kostet es Mut", sagt Bandelow. "Aber später erlebt man, wie toll es ist, die Angst überwunden zu haben. Wenn man anfängt, den Ängsten aus dem Weg zu gehen, werden andere Ängste auftreten und man kommt aus dem Teufelskreis nicht mehr heraus."

Manche wünschen sich, die Angst könnte "weghypnotisiert" werden. "Das kann man als wirksames Verfahren aber nicht empfehlen, denn dass das wirkt, wurde noch nicht in Studien belegt", sagt Bandelow. Wenn es jemandem helfe, liege das wahrscheinlich am Placeboeffekt. "Für Hypnose und andere nicht nachgewiesene Methoden wird viel Geld verplempert und das, was wirklich hilft, nämlich die Konfrontationstherapie, wird den Leuten nicht angeboten." In rund einem Dutzend "Berg-Sitzungen" kann man langsam die Angst verlieren - sowohl vor dem Klettern als auch vor Hochhäusern. Die Panik kommt zunächst immer wieder, aber Stauder lenkt geschickt mit Gesprächen über das Wetter ab oder vergleicht die schreckerfüllten Augen mit denen eines Kaninchens, so-dass die Betroffenen lachen müssen und die Angst verschwindet.

Mit einer "Virtual-Reality-Brille" blickt man von Wolkenkratzern oder schaut in Abgründe

Dem Gehirn könne man auf zweierlei Weise helfen, sagt Psychiater Zwanzger. "Zum einen kann man die Kognition stärken und sich immer wieder sagen: Ich falle nicht, ich brauche keine Angst zu haben." Zum anderen lerne das Gehirn nur durch Erfahrung. Spürt man immer wieder, dass einem in der Höhe nichts passiert, verliert das Hirn das falsch eingelernte Verhalten. Die Therapie hilft: Mehr als 80 Prozent der Betroffenen überwinden ihre Angst.

"Am größten sind die Erfolgschancen, wenn man bei der Konfrontation vom Therapeuten begleitet wird", sagt Zwanzger. Um Berg oder hohe Gebäude näher zum Therapeuten zu bringen, hat er einen Therapieraum eingerichtet, wo Betroffene eine "virtuelle Konfrontationstherapie" machen können. Der Patient sieht dabei im Computer Situationen, die ihm Angst machen, etwa von einem Hochhaus hinunter. In kleineren Studien funktionierte das. "Ich halte es für eine gute Alternative, wenn einem die Therapie in der Realität zu aufwendig ist", sagt Zwanzger. Apps für das Mobiltelefon funktionieren ähnlich: Mit einer Virtual-Reality-Brille blickt man von Wolkenkratzern oder schaut in Abgründe, bei anderen Apps wird man per Hypnose unterstützt. "Im Einzelfall kann eine App helfen", sagt Michael Rufer, "ich würde mir aber immer solche suchen, die auf einer kognitiven Verhaltenstherapie beruhen und von einer Uni hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft werden."

Die Eventmanagerin ist erst zusammen mit ihm, dann allein auf Hochhäuser, Kirchtürme, Dachterrassen und auf hohe Brücken gegangen. "Nach zwölf Expositionen hatte sie keine Angst mehr bei Events in oberen Stockwerken", erzählte Rufer. "Sie hatte gelernt, mit solchen Situationen klarzukommen und fand schnell einen neuen Job." Besonders mögen tut sie die Höhe aber immer noch nicht. "Ihr Motto ist dann immer: Ich muss ja zum Glück keine Trapezkünstlerin werden."

© SZ vom 26.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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