Haushaltsplanung:Zuerst kommt die Miete

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Papiere und Rechnungen sichten, nur so bekommt man einen Überblick über die finanzielle Situation. In Deutschland waren 2017 etwa 6,9 Millionen Menschen überschuldet. (Foto: imago stock&people)

Wer knapp bei Kasse ist, überlegt sich genau, welche Rechnung wann bezahlt werden soll. Vermieter kriegen aber meist ihr Geld.

Von Stefan Weber

Als Wolfram Falter fünf Tage vor Fälligkeit seiner Wohnungsmiete realisierte, dass er nicht werde zahlen können, ergriff er die Flucht nach vorn. Er rief seinen Vermieter an, gestand, dass er mit seinem kleinen Gartenbaubetrieb Schiffbruch erlitten hatte und nun in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Aber Falter, der in Wirklichkeit anders heißt, jammerte nicht nur. Er präsentierte gleich einen Vorschlag, wie er die Miete in den nächsten Monaten finanzieren wolle. Das beeindruckte den Vermieter. Er gewährte Aufschub und stimmte obendrein einer Ratenzahlung zu. Damit hatte Falter die Gefahr, wegen Mietschulden gekündigt zu werden, zunächst abgewendet.

Der Fall beschreibt ein Phänomen, das André Becker "Priorisierung von finanziellen Verpflichtungen" nennt. Der Geschäftsführer der Wirtschaftsauskunftei Creditreform Düsseldorf/Neuss beobachtet, dass Schuldner immer häufiger sehr genau überlegen, welche Verpflichtungen sie bevorzugt erfüllen. "Wer knapp bei Kasse ist, lässt lieber Rechnungen beim Versandhändler offen, als dass er seine Miete schuldig bleibt. Denn viele wissen, dass sie im Fall einer Kündigung wegen Mietschulden kaum Chancen haben, eine neue Wohnung zu finden", sagt Becker. Schließlich könnten Immobilieneigentümer bei Neuvermietungen in Ballungsgebieten aus einer Vielzahl von Bewerbern wählen. "Und wer entscheidet sich da für einen Kandidaten, der schon einmal wegen Mietschulden auffällig geworden ist?"

Die Angst, die Wohnung zu verlieren, ist ein Grund, warum Mietschulden in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen sind, während gleichzeitig die Zahl der überschuldeten Verbraucher weiter kontinuierlich gestiegen ist. Die etwa 3000 im GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen organisierten professionellen Vermieter verzeichneten 2017 Mietschulden in Höhe von 372 Millionen Euro. Das waren knapp zehn Prozent weniger als im Jahr zuvor. Gegenüber 2003 haben sich die Rückstände sogar mehr als halbiert. Auf der anderen Seite hat die Zahl der überschuldeten Verbraucher 2017 zum vierten Mal hintereinander zugenommen. Zum Jahresende waren laut Schuldneratlas von Creditreform 6,91 Millionen Erwachsene "überschuldet und wiesen nachhaltige Zahlungsstörungen auf". Das verwundert in wirtschaftlich stabilen Zeiten und niedriger Arbeitslosigkeit. Aber der Verlust des Jobs ist nach Beobachtungen von Creditreform immer seltener verantwortlich für eine persönliche Schuldenmisere. Viel öfter hießen die Auslöser "Erkrankung, Sucht, Unfall" oder "unwirtschaftliche Haushaltsführung".

Aus dem Schuldneratlas geht aber auch hervor, dass "viele Menschen so viel Geld für ihre Miete zahlen müssen, dass sie an den Rand der Armutsgrenze gelangen". Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass etwa 40 Prozent der Haushalte in deutschen Großstädten mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens ausgeben müssen, um die Bruttokaltmiete bezahlen zu können. Betroffen sind etwa 5,6 Millionen Haushalte, in denen 8,6 Millionen Menschen leben. Für etwa 1,3 Millionen Haushalte in deutschen Großstädten liegt das Resteinkommen nach Abzug der Miete sogar unterhalb der Hartz-IV-Regelsätze. Sozialwissenschaftler und Immobilienexperten halten eine Mietbelastungsquote von mehr als 30 Prozent für problematisch, weil dann nur noch wenig Geld für die sonstige Lebensführung bleibt.

Die Folge ist, dass Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger sehr häufig bei ihrer Kommune um Unterstützung bitten, weil sie die Miete nicht aufbringen können. Mitarbeiter des Amtes für Soziales und Senioren der Stadt Köln beispielsweise bestätigen "seit Jahren konstant hohe Unterstützungszahlungen, entweder als Darlehen oder Beihilfe". Der Hintergrund: Die Stadt will vermeiden, dass mehr Menschen ihre Wohnung verlieren und obdachlos werden. "Damit verlagert sich das Risiko des Zahlungsausfalls vom Vermieter auf den Staat. Wohnungsunternehmen oder private Vermieter müssen sich nicht die Mühe machen, Ratenzahlungen mit säumigen Mietern zu vereinbaren, sondern erhalten pünktlich die volle Miete vom Amt", sagt Michael Eham, Geschäftsführer der Schuldnerhilfe Köln. Auch das ist ein Grund, weshalb die Mietrückstände bei den im GdW organisierten Unternehmen zuletzt deutlich zurückgegangen sind.

Hinzu kommt: Große Wohnungsvermieter gehen heute mit säumigen Zahlern anders um als noch vor fünf oder zehn Jahren. Es gibt vielfältige Betreuungs- und Beratungsangebote, im eigenen Haus oder extern in Zusammenarbeit mit Schuldnerberatungs- und sozialen Einrichtungen. Ein Beispiel dafür ist ein Projekt, das die Schuldnerhilfe Köln mit der Düsseldorfer Immobiliengesellschaft LEG, die bundesweit etwa 130 000 Wohnungen besitzt, durchführte. Mehr als zwei Jahre legte die LEG jedem Schreiben, in dem sie säumigen Mietern eine Kündigung aussprach, einen Flyer der Schuldnerhilfe ("Wir helfen Ihnen, Ihre Wohnung zu behalten") bei. Etwa jeder siebte Betroffene nahm tatsächlich Kontakt auf, und in zwei von drei Fällen erreichten die Schuldenberater, dass die fristlose Kündigung zurückgenommen wurde - etwa indem ein verbindlicher Plan zur Schuldenregulierung ausgehandelt wurde. Mitte 2017 stellte LEG dieses Projekt ein - weil das Unternehmen inzwischen eigene Mitarbeiter zur Unterstützung des Forderungsmanagements eingestellt hatte. "Für Wohnungseigentümer macht es betriebswirtschaftlich keinen Sinn, das Verhältnis zu säumigen Mietern eskalieren zu lassen. Denn eine Räumung verschlingt schnell einen fünfstelligen Betrag, und auf diesen Kosten bleibt der Vermieter meistens sitzen", sagt Gundolf Meyer von der Schuldnerhilfe Köln.

Auf der anderen Seite erfordert es viel Zeit und Geduld, mit Schuldnern individuelle Tilgungspläne zu vereinbaren. Denn viele haben neben Mietschulden noch weitere Zahlungsverpflichtungen. Aus Scham, Ignoranz und in der Hoffnung, es doch noch irgendwie zu schaffen, suchen Schuldner oft erst sehr spät professionelle Unterstützung. Das begrenzt die Handlungsmöglichkeiten auch für Experten. "Private Wohnungseigentümer zeigen häufig mehr Geduld, wenn ein Mieter, den sie möglicherweise seit vielen Jahren persönlich kennen, plötzlich stockend zahlt. Dagegen haben große Immobilienunternehmen mit mehreren Tausend Wohnungen oft standardisierte Abläufe, setzen verbindliche Fristen und sprechen auch konsequent Kündigungen aus", betont Meyer.

Um den Aufwand für die Beitreibung der Miete zu begrenzen, bedienen sich professionelle Vermieter mitunter auch der Dienste von Inkassounternehmen. Das gilt besonders bei der Bearbeitung älterer Forderungsbestände, die einen hohen Einsatz verlangen, aber oft wenig Potenzial besitzen. Oder die Wohnungsunternehmen verkaufen ihre Forderungen weiter.

Immer häufiger setzen Vermieter jedoch sehr früh an, um das Problem erst gar nicht aufkommen zu lassen: Sie prüfen die Zahlungsfähigkeit der Wohnungsinteressenten sehr genau. André Becker von Creditreform registriert schon seit geraumer Zeit eine steigende Nachfrage nach Seminarplätzen, wenn das Thema "Bonitätsvorprüfung von Mietern" auf dem Programm steht. "Tatsächlich wissen Vermieter häufig immer noch sehr wenig über diejenigen Menschen, denen sie ihre Immobilie überlassen - trotz Schufa- oder Selbstauskunft. Denn diese Angaben lassen sich mit genügend krimineller Energie leicht fälschen", sagt Becker.

© SZ vom 21.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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