Geschirr:Es ist angerichtet

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Blümchenteller mit Goldrand, in einem Münchner Secondhand-Laden entdeckt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Ob Braten oder Kaffee und Kuchen - früher war das unvorstellbar ohne feines Geschirr. Heute ist es fast verschwunden - vom Glanz und Elend des Sonntagsporzellans.

Von Oliver Herwig

Es scheint irgendwie verloren gegangen - oder einfach nur aus dem Blick geraten: das Sonntagsporzellan. Dabei wurde es einst geschätzt und gehütet, präsentiert und gesammelt. Es war immer dabei, wenn Gäste kamen. Sonntagsbraten mit Sauciere oder Kaffee und Kuchen - unvorstellbar ohne feines Geschirr. Teller, Tassen und Kannen natürlich aus Porzellan. Der Tisch erstrahlte in Weiß, und all die kleinen Sorgen des Alltags verschwanden für einen Augenblick unter einem großen Tischtuch. Darauf das Objekt der Begierde, eine Sahnetorte oder ein gedeckter Apfelkuchen. Dazu Kaffee für die Erwachsenen oder Tee mit einem Schuss Rum.

Zu den Besonderheiten des Sonntagsporzellans zählte, dass es handgespült in die Anrichte oder gar in die Vitrine wanderte, mit je einer Serviette zwischen den Teilen, damit sie garantiert keinen Schaden nahmen. Und wenn sie dann so aufgereiht dastanden, bereit für die nächste Kuchenschlacht, hatten sie selbst etwas Militärisches, wie flachgepresste Sturmtruppen aus Star Wars.

Ein Stück ging kaputt? Kein Problem, es gab ja eine Nachkaufgarantie

Das Sonntagsporzellan durfte, ja sollte Eindruck machen - nicht allein durch seine feine Wandstärke oder sein filigranes Dekor, sondern vor allem durch die vollständige Präsentation aller Zusatzteile, Zuckerdosen und Milchkännchen. Kein Wunder, dass ein Service zur Aussteuer gehörte, 24 Teile, säuberlich verpackt und wie ein Augapfel gehütet. Und wenn doch mal ein Stück zu Boden ging oder einen Kratzer abbekam, gab es schließlich über Jahre eine Nachkaufgarantie. Porzellan war gewissermaßen der Goldstandard der bürgerlichen Häuslichkeit.

Ursprünglich war das edle Material eine Sache für Fürsten und Königshäuser, ein Repräsentationsgut, das zur festlichen Tafel gehörte wie verschwenderisch ausgebreitetes Silber. So manche Häuser verschuldeten sich für eine besonders festliche Tafel, die schließlich ihren Stand untermauerte, ihre Stellung innerhalb der göttlichen Ordnung. Verspielte Tafelaufsätze und neckische Porzellanfiguren sollten die Gespräche bei Tisch beflügeln. Noch heute erfreuen sich manche Sammler an Franz Anton Bustellis feingliedrigen Rokoko-Figuren. Doch die wenigsten stehen wirklich noch auf dem Tisch. Eher müssen die galanten Paare geschützt vor Katze und Enkelkindern in der Vitrine ausharren.

Das zerbrechliche Material war schon immer ein Luxusgut, das zunächst exklusiv aus China vertrieben wurde - was sich bis heute in der englischen Bezeichnung für Porzellan - "china" - hält. Wie so oft bei großen Geheimnissen sind die Bestandteile vergleichsweise banal: Kaolin, Feldspat und Quarz. Das Geheimnis der Fertigung lag nicht nur in der richtigen Mischung der Ausgangsmaterialien, ihrer hohen Brenntemperatur oder der Tatsache, dass die Porzellanmasse beim Brand schrumpft, was bei allen Arbeiten berücksichtigt werden musste, sondern in der Glasur. Sie veredelte Porzellan.

Rezepte und Techniken blieben das Kapital der europäischen Manufakturen, die im 18. Jahrhundert aus dem Boden sprossen und dem chinesischen Original nacheiferten. Von Dresden, Wien, Berlin und Nymphenburg, später Tirschenreuth, Waldsassen und Mitterteich aus machte sich Porzellan daran, auch die bürgerlichen Tische zu erobern. Es blieb lange etwas Besonderes, auch wenn die industrielle Fertigung im vergangenen Jahrhundert zu einer Demokratisierung des Porzellans führte, bis zuletzt sogar Rosenthal-Geschirr bei Edeka landete - als Treueaktion mit "sattem Preisnachlass".

Zwei Drittel der Käufer achteten zuerst auf den Preis. Erst dann auf die Marke

Der große Run auf das weiße Gold scheint vorbei zu sein. Gut 300 Jahre, nachdem Johann Friedrich Böttger und Ehrenfried Walther von Tschirnhaus in Dresden das Porzellan nochmals erfanden, ist sein Wert überschaubar. Eine Umfrage von Statista zum Einkaufsverhalten bei Besteck, Gläsern und Porzellan von 2016 zeigt: Fast zwei Drittel der Käufer achten zuerst auf den Preis. Erst danach kommt die Marke (nicht einmal 20 Prozent geben das an). Und das, obwohl die Marke bei Silber und Porzellan immer so etwas wie die Krönung des Handwerks darstellte: als Ausweis der Herkunft und Qualitätsnachweis in einem. Nicht nur bei Sammlerbörsen werden Teller zunächst einmal umgedreht, um herauszubekommen, woher das gute Stück überhaupt stammt. Die eingebrannte Marke gibt Auskunft über den Produktionsort. Bei ganz edlen Stücken verewigen sich auch die Porzellanmaler mit ihrem Namenskürzel.

Der erstaunliche Aufstieg und Fall des weißen Goldes begann in den Fünfzigerjahren und endete jäh mit der Jahrtausendwende, als sich Haushalte zusehends entmaterialisierten. Auch auf der bürgerlichen Tafel war es zunächst Repräsentationsgut. Nachbarn, Familie und Freunde sollten es ruhig bestaunen. Sammelteller und die Sammeltassen kamen in Mode, die mit aufwendigem Dekor und Goldrand vorgaben, zumindest aus einer fürstlichen Sammlung zu stammen. Dass trotz aller Vorsicht der Rand immer mehr verblasste - geschenkt. Schließlich waren Sammeltassen zwar hoch im Kurs, aber doch nur Produkte einer Industriekultur des Scheins. Heute finden sie sich im Dutzend billiger, werden im Netz verramscht oder landen wie Findlinge vor der Tür, zusammen mit alten Blumenvasen, ausgedientem Spielzeug, zerfledderten Taschenbüchern und einem verschämten Schild "zu verschenken". Und wenn da und dort eine Ecke fehlt - Scherben bringen bekanntlich Glück. So wie an manchem Polterabend Porzellan zerdeppert und von den Brautleuten aufgefegt wird. Damit sie sich lange vertragen, selbst wenn mal was danebengeht.

Porzellan zeigt wunderbar, wie die Konjunkturen des Begehrens funktionieren: Erst sind die Dinge gefragt, dann normal, schließlich ziemlich altmodisch - bis sie irgendwann aus den Untiefen des Flohmarkts wieder auftauchen in den Gefilden der Jäger und Sammler. Dann ist das Stück auf einmal Vintage. Das hat mit Langspielplatten ziemlich gut geklappt. Bei Porzellan dürfte es etwas dauern, bis Omas Sonntagsporzellan mal wieder so richtig angesagt ist. Kluge Marktbeobachter könnten langsam das verstaubte Zeugs auf dem Dachboden aber einer genaueren Betrachtung unterziehen, ob nicht doch einige verborgene Schätze darunter sind. Dabei gilt: Erst auf der Unterseite entscheidet sich der wahre Wert. Alle anderen können das gute Stück einfach verwenden, und zwar richtig herum.

© SZ vom 16.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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