Floating Farm:Kuh über Wasser

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Ein niederländisches Ehepaar hat im Hafen von Rotterdam einen schwimmenden Bauernhof errichtet, ein weltweit einmaliges Projekt. Damit der Betrieb wirtschaftlich und nachhaltig funktioniert, sind außergewöhnliche Methoden gefragt.

Von Evelyn Pschak

Kuh Nummer 32 heißt Karma, Nummer fünf Madame Curie. Und für Nummer 36 hat sich ein Spaßvogel den Namen Courage einfallen lassen. 1500 Euro musste man zahlen, wollte man einer Kuh dieser ganz besonderen Herde einen Namen geben - und damit an einem Pionierprojekt teilhaben. Die Universität von Pennsylvania etwa hat sich "Sustainabetty" ausgedacht, in Abwandlung des englischen Worts sustainability - Nachhaltigkeit. Denn die 38 Kühe mit internationalen Taufpaten gehören zu einem nachhaltig operierenden Milchbauernhof im Merwehaven am rechten Maasufer Rotterdams. Ihr Stall schwimmt mitsamt den Tieren seit Mai inmitten des größten Tiefseehafens Europas. Jawohl: zu Wasser. Es ist der erste schwimmende Bauernhof weltweit.

Die Kuhtaufen-Kampagne hat sich Minke van Wingerden einfallen lassen. Die Niederländerin ist, gemeinsam mit ihrem Mann Peter, Initiatorin der Floating Farm. Die wahrscheinlich nirgendwo sonst hätte entstehen können als in Rotterdam. Die Stadt liegt nicht nur im wasserreichen gemeinsamen Mündungsbereich des Rhein-Maas-Deltas der südlichen Nordsee, auch der tiefste bewohnte Punkt der Niederlande liegt im Kommunalgebiet, etwa sechs Meter unterhalb des Meeresspiegels. Wie man dem Wasser Lebensraum abtrotzt, weiß man in Rotterdam also sehr genau.

Können Kühe seekrank werden? Eine schwierige Frage

"Niederländer sind erfahren im Umgang mit Wasser und in der Landwirtschaft", sagt Minke van Wingerden. Und fügt an: "Diese beiden Wissensfelder finden hier zueinander." Angesichts von Klimawandel, steigendem Meeresspiegel und wachsender Weltbevölkerung will sie ihren schwimmenden Stall eben auch im übertragenen Sinne auf Tragfähigkeit überprüfen. 2050, so lauten die Prognosen, sollen knapp 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Urbares Land ist knapp. Etwa zwei Drittel der Erdoberfläche sind Wasser, das meiste davon Salzwasser: "Hier auf dem Wasser ist noch Raum für Möglichkeiten", folgert von Wingerden. Und nennt einen weiteren Vorteil: "Wer in den Niederlanden einen Bauernhof gründen will, muss beweisen, dass er Land besitzt. Wir aber mieten unseren Platz im Hafenbecken einfach von der Hafenverwaltung Rotterdams."

Hof im Hafen: In der "floating farm" leben 38 Kühe. (Foto: Iris van den Broek / Rotterdam Partners)

Auf den ersten Blick gibt sich der kompakte, grau verkleidete Schwimmkörper erst einmal nicht als Hof zu erkennen. Wenige Meter Wasser trennen ihn von Hafenmauer und Parkplätzen, zwei Stahlbrücken führen herab, auf ein Stückchen Grasland zu. Nur ein wenig Einstreu liegt in einer Ecke. Und dann riecht es plötzlich doch nach Landwirtschaft, obwohl noch viel anderes in der Luft liegt, Dieselgeruch etwa. Von der Vorderseite erblickt man dann die Kühe der oberen Plattform, die sich durch grüne Trennstäbe hindurch an die Futterstelle drängen. Über eine Brücke können sie ein kleines Stück Festland mit regennassem Gras erreichen, wenn sie denn wollen. "Vor allem, wenn sie das Geräusch des Laufbands mit dem Futter hören, kommen sie aber sofort auf ihre Plattform zurück", sagt Minke van Wingerden. "Ihr Getrampel ist dann weit über den Hafen zu hören."

Die Idee zur Floating Farm, erzählt die Geschäftsfrau, sei ihrem Mann 2012 in New York City gekommen, als aufgrund gefluteter Transportwege bereits zwei Tage nach dem Hurrikan Sandy keine frische Ware mehr in den Supermarktregalen zu finden war. Vor den Toren zum Hofgelände bückt sie sich schnell, um einen abgerissenen Kabelstecker aufzuheben. Und seufzt: "Das ist schon das zweite Mal diese Woche, dass Diebe uns an die Zapfanlagen gehen, sie wollen an das Kupfer." Ein Nachtwächter sei im Business Plan eigentlich nicht vorgesehen gewesen. Und überhaupt gebe es bei solch einem Pionierprojekt viel Unvorhergesehenes: "Das wahre Leben gestaltet sich häufig anders als auf dem Entwurfstisch skizziert. Vom Prototypen lernen wir eine Menge."

Oben Kuh, unten Technik: Die Anlage hat mehrere Etagen. Auf der obersten befinden sich die Kühe und das Melksystem, darunter ist der Milchtank. (Foto: Iris van den Broek / Rotterdam Partners)

"Wir arbeiten eng mit der Tierärztlichen Universität von Utrecht zusammen", erläutert die Niederländerin. Die Wissenschaftler dort hatten beispielsweise untersucht, ob Kühe seekrank werden können. "Nur durch ihre veterinärmedizinische Zustimmung kamen wir mit unserem Projekt weiter." Das Hauptproblem danach sei die Stabilisierung des Plattformwürfels gewesen: "Die Kühe laufen frei herum, sie sind schwer und neigen dazu, sich in Grüppchen zusammenzustellen."

Wie so oft bei Learning-by-doing-Projekten ist es teuer erkauftes Wissen. Zu den Bauplänen des Rotterdamer Architekturbüros Goldsmith will van Wingerden daher auch nicht viel sagen, steht sie doch bereits weltweit in Verhandlungen, um das neue Geschäftsmodell vorzustellen. Am nächsten Morgen etwa wird sie für eine Präsentation nach Mumbai fliegen. Und von dem Bau aus Beton und Stahl erzählen, von den drei übereinander liegenden Stockwerken, von denen das tiefste und schwerste fast ganz unter Wasser liegt, mit Maßen von jeweils 27 auf 27 Metern, und vom Dach aus fünf lichtdurchlässigen Kunststoffbögen. Und von dem Metallbolzen, der durch die Ebenen hindurch bis in den Hafenbeckenboden hinein als Verankerung dient, an dem der schwimmende Kubus auf- und abgleiten kann, um den Höhenunterschied der Gezeiten im Hafen auszugleichen.

Die Jauche soll so sauber sein, dass sie zurück in den Hafen geleitet werden kann

Ein kuhfreundliches, autarkes, regeneratives und technologisch ausgetüfteltes System wollen die Unternehmer schaffen. Die unter Wasser liegende Plattform beherbergt dafür neben Lagerräumen auch einen Regenwassertank, der übers Dach gespeist wird und aus dem die Kühe getränkt werden. Außerdem trennt hier eine Maschine Jauche und Trockenmist. Im mittleren Stockwerk, wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche, wird das Laufband mit dem Futter gewartet oder in den gekachelten Milchkammern hinter Glasscheiben Milch pasteurisiert, in Pet-Flaschen gefüllt oder zu Joghurt verarbeitet. Das oberste Stockwerk ist für die Kühe und das automatische Melksystem reserviert, dessen Schläuche zum Milchtank im Zwischenstock führen.

Solarpaneele auf dem Wasser versorgen den Hof mit Sonnenstrom. (Foto: Iris van den Broek / Rotterdam Partners)

Die Kühe tragen Halsbänder mit Computerchip, damit die Melkmaschine die letzte Milchabgabe ablesen kann. Über eine App behält der Milchbauer seine Tiere Tag und Nacht im Auge. Ein Roboter sammelt den Mist unterm Vieh weg, die Aufbereitungsanlage im Untergeschoss trennt ihn sofort, aus dem Trockenmist wird wieder Streu.

"Auch aus dem Urin wollen wir die noch nutzbaren Mineralien und Salze herausfiltern," so van Wingerden. An Letzterem arbeiten derzeit Forscher der Universität von Delft in einem Container am Ufer vor dem Bauernhof. Die Jauche soll am Ende so sauber sein, dass sie zurück in den Hafen geleitet werden kann.

Die Energiezufuhr funktioniert zumindest teilweise bereits über Solarpaneele, die neben dem Bauernhof im Wasser treiben. Sogar das Viehfutter kommt großteils aus der Stadt, seien es Kartoffelschalen oder Abfälle ortsansässiger Bierbrauereien. Noch sind die Bäumchen, die auf dem Kuhdeck angepflanzt wurden, mickrig. Aber schon jetzt bringen ihre fallenden Blätter die Roboter durcheinander. Nun sucht das Farm-Team nach anderen Pflanzen, die gesund für Kühe sind, nicht zu viel Erdboden benötigen oder zu schwer werden. Es ist eben vieles, was man während solch einer Recherchephase in einer ganz neuartigen Immobilie beachten muss.

Gerade bauen die Farm-Unternehmer ein Besucherzentrum. Manchmal kämen fünf Gruppen täglich, staunt van Wingerden: "Sogar von den Kreuzfahrtschiffen", erzählt sie. Dass sie mit ihrer Floating Farm einen Nerv trifft, kann die gebürtige Friesländerin auch an ihrer Einladung auf die Architekturbiennale von Venedig erkennen. "Die Floating Farm ist sehr beweglich, aber doch nicht dafür gemacht, so weite Strecken hinter sich zu legen", so ihre freundliche Absage. "Sie hat auch keinen Motor, man müsste die Farm also über ein Schiff verfrachten."

Und sie will Logistik ja gerade einfacher machen, nicht komplizierter: Nahrungsproduktion in direkter Nachbarschaft zum Verbraucher. Weniger Belastung für die Umwelt durch kurze Transportwege und so auch weniger Verlust von verderblicher Ware, lauten ihre Losungen. "Und wenn die Bürger ihre Kühe kennen", fügt Minke van Wingerden zuletzt noch an, "könnte das ein zusätzlicher Anstoß sein, weniger Nahrung zu verschwenden."

© SZ vom 23.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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