Finanzmarkt und die Politik:Wer regiert die Welt?

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Es war ein kurzer Sommer ohne ökonomische Anarchie: Jetzt leben Egoismus und Ungerührtheit der Finanzwelt wieder auf.

Andreas Zielcke

An den Gang nach Canossa erinnern sich viele noch aus dem Schulunterricht, weniger wohl an seinen historischen Kontext, den Investiturstreit. Vordergründig stritt man sich um das Recht, Geistliche in ihr Amt zu berufen. Tatsächlich jedoch bildete der mittelalterliche Zwist den Höhepunkt eines dramatischen Kampfes zwischen der geistlichen und der weltlichen Herrschaft um die Vormacht. Man einigte sich dann zwar (im Wormser Konkordat von 1122) auf einen Kompromiss, doch beigelegt war der Konflikt längst nicht; noch Luthers Zwei-Reiche-Lehre knüpfte daran an. In jedem Fall aber erlaubt er die Analogie zum heutigen Ringen zwischen der Wirtschaft und der Politik: eine gespaltene Welt, zwei rivalisierende Reiche.

In den Augen traditioneller Kapitalismuskritiker gehört es zur Ironie der Geschichte, dass an die vormalige Stelle der Geistlichkeit die Macht des Geldes getreten ist. Im Bild: Die Banken von Frankfurt. (Foto: Foto: AP)

In den Augen traditioneller Kapitalismuskritiker gehört es zur Ironie der Geschichte, dass an die vormalige Stelle der Geistlichkeit die Macht des Geldes getreten ist, angebetet als säkulare Religion, die keine gleichwertige Macht neben sich duldet. Doch alle Polemik beiseite - dass die politische Gestaltungskompetenz wegen der Dominanz der Wirtschaft unbestreitbar über weite Bereiche in Frage gestellt ist, fordert den demokratischen Souverän gewaltig heraus. Lange vor der Wirtschaftskrise hatte sich die Krise der politischen Demokratie etabliert.

Noch bis zum Sommer 2008 galten alle, die der Politik noch immer die höhere Gestaltungskraft zusprachen, als hoffnungslos gestrig. Angesichts der Triumpfe der neoliberalen Lehre, beflügelt durch immer neue Rendite-Rekorde, galt der lenkende Staat, zumal der Sozialstaat, als im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet, finanziell und vor allem ideologisch. Habermas gab dem Niedergang Ausdruck, als er von der "lähmenden Aussicht" sprach, dass die "nationale Politik nurmehr auf die erzwungene Anpassung an die Imperative der 'Standortsicherung' reduziert" sei.

Als sich aber nach dem Finanzkollaps der Staat als der alleinige Retter des Bankensystems und auch der Realwirtschaft erwies, war der Machtkampf, der doch längst entschieden zu sein schien, wieder offen. Ja, der Wind hatte sich so gedreht, dass der Staat auch für jene, die ihn eben noch verachteten, die einzige Instanz zu sein schien, die verlässlich und kreditwürdig, die legitimiert, verantwortungsvoll und weitsichtig genug ist, nicht nur den Bürgern, sondern eben auch der Wirtschaft selbst eine Zukunft zu sichern. Das Mirakel der Renaissance des Staates war die positive Kehrseite des Debakels der unsichtbaren Hand des Marktes.

Der Markt ist kein Teufel

Doch trügt der Schein? Die Zeichen, die gegen ihn sprechen, mehren sich. Selbst jene Banken, die mit Staatsmitteln gerettet wurden, kann man nur mühsam, wenn überhaupt zurückhalten, frivole Boni auszuteilen. Goldman Sachs ist der Vorreiter in sagenhafter Höhe. Egoismus und Ungerührtheit der Finanzwelt leben wieder auf, trotz des allerorts herrschenden Unmuts. Wenn nicht der realwirtschaftliche Markt, so scheint doch der Finanzmarkt erneut über seinen politischen Widerpart erhaben zu sein. Aus der Sicht des Staates war es, frei nach Enzensberger, ein kurzer Sommer ohne ökonomische Anarchie.

Wie sehr der Finanzmarkt in der Tat erhaben ist, zeigt weniger der neu-alte Kult um die Boni als vielmehr die Tatsache, dass man trotz aller politischen Drohgebärden keine effektive Regulierung des Finanzsystems durchgesetzt hat. Das "Monster", vor dem der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff kürzlich warnte, ist in keiner Weise gebändigt.

Aber wie kann das sein, da doch seine destruktiven Kräfte so furchterregend zu Tage getreten sind und also die nächste monumentale Krise vor der Türe stehen könnte? Ganze Volkswirtschaften sind wie arme Tagelöhner überschuldet, Staaten wie Griechenland kämpfen gegen den Bankrott, und man lässt die Hasardeure weiterhin marodieren - warum?

Es liegt offenbar an einem Konstruktionsfehler. Doch dieser Fehler ist nicht in der Ökonomie selbst begründet, sondern darin, wie sie zivilisiert wird. Man muss den Kapitalismus nicht verteufeln und ihm Bösartigkeit zusprechen - wie einem "Monster". Das ist einer der Hauptfehler seiner Kritiker. Ihm eine asoziale Struktur vorzuwerfen, ist so klug, wie dem Jagdhund das Jagen vorzuhalten. Seine unvergleichliche Produktivität, Innovationspotenz und historische Durchsetzungskraft, all dies setzt seine völlige Unempfindlichkeit, Bindungslosigkeit und Abstraktion von allen sozialen und individuellen Besonderheiten voraus.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag

Sein asozialer Zug ist kein Charakterfehler, sondern ein konstruktives Prinzip. So wenig aber, wie man ein Geschöpf wie Frankenstein aus dem Labor entweichen und unter den Menschen sein Unwesen treiben lassen darf, so wenig darf man das Geschöpf "Kapitalismus" mit seinen riesigen Potenzen und dem nicht-existenten "humanen" Kopf einfach auf die Menschheit loslassen. Für die frühen Akkumulationsphasen mag das zwangsläufig gewesen sein. Doch für die Jetztzeit zählt nicht die historische Genese, sondern die soziale Abfolge.

Es ist eine Frage der Priorität. Geht man von einem gleichrangigen Nebeneinander von Markt und Staat aus, die wie jene zwei unversöhnlichen Mächte im Mittelalter einander übertrumpfen wollen, dann hat man die heutigen Probleme. Auf Dauer gewinnt der gewissenlosere von beiden, also die Ökonomie.

Doch der Staat ist, wohlverstanden, mehr als nur die Reparaturstätte des Marktes. Er (genauer: das Gemeinwesen, das er repräsentiert) muss dessen Prämisse sein. Die Ökonomie darf nicht neben dem Sozialvertrag eingerichtet und von außen "gezähmt" werden - das ist das Missverständnis vieler über die "soziale Marktwirtschaft". Sie muss integraler Bestandteil des Gesellschaftsvertrages sein und dessen Vorgaben und Geist gehorchen.

Natürlich kann es nicht bei blauäugiger Kirchentagsprosa bleiben. Schließlich ist die Umstellung auf den sozialverträglichen Kapitalismus so unvermeidlich und als Aufgabe so kolossal wie die Umstellung des Gesellschaftsvertrags auf eine klimagerechte Zivilisation. Nichts Geringeres als dieses Doppelprojekt steht an. Die Moderne ist offenkundig an dem Punkt angekommen, an dem sie sich den beiden erd- und gattungsumspannenden Herausforderungen gleichzeitig stellen muss, der ökologischen und der ökonomischen. Solange der Sozialstaat nur als Heilanstalt der Blessuren auftritt, die der rigorose Markt hinterlässt, wird er so ausgehöhlt und schwach, wie wir es seit langem beobachten.

Die Pointe dabei ist, dass auf Dauer, wenn also soziales und individuelles Wohl der wirkliche Sinn des Marktwirtschaftens werden, womöglich auch der integrierte Kapitalismus gewinnt. Schlüsse dafür lassen sich aus den rheinischen oder skandinavischen Erfahrungen ziehen. Doch hinreichende Modelle für die künftige Verträglichkeit des stets auch unverträglichen globalen Kapitalismus enthalten diese nicht. Die politische Phantasie für die Entwicklung dieses Paradoxes ist noch unterentwickelt. Doch auch wenn es kein Trost ist: Das teilt sie mit der ökologischen Phantasie.

© SZ vom 12.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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