Bundesverwaltungsgericht:Revolution im Neubaugebiet

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Wer zahlt eigentlich für die Grundstückserschließung? Klamme Kommunen wälzen die Kosten mit einem Trick gerne auf die Bürger ab - und müssen jetzt vielleicht bluten.

Angelika Slavik

Bietigheim-Bissingen ist ein Ort, wie es viele gibt in Baden-Württemberg. 45000 Einwohner, Fachwerkhäuser, ein bisschen bildende Kunst im Zentrum. Die Bundesstraße 27 fräst sich quer durch die Stadt. Insgesamt ist Bietigheim-Bissingen ein Ort, der die Bezeichnung "Städtchen" wirklich verdient hat. Man würde nicht vermuten, dass hier die Revolution zu Hause ist.

Ein privates Unternehmen vorzuschieben, das in Wahrheit der Kommune gehöre, und so den Großteil der Erschließungskosten auf die Grundstückskäufer abzuwälzen, ist  unzulässig - das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. (Foto: dpa)

Tatsächlich aber nimmt in Bietigheim-Bissingen eine Geschichte ihren Anfang, die Hunderttausenden deutschen Hausbesitzern eine Menge Geld bringen könnte - und die für viele ohnehin klamme Kommunen den finanziellen Kollaps bedeuten würde. Weil hier eben doch die Revolution wohnt: im Neubaugebiet von Bietigheim-Bissingen.

Vor ein paar Jahren wollte die Stadtverwaltung hier, 20 Kilometer vor Stuttgart, neue Grundstücke erschließen und zu Bauland umwidmen. Doch so eine Grundstückserschließung ist teuer: Bis Leitungen und Kabel verlegt, bis der Kanal verlängert ist, braucht es eine Menge Geld. Geld, das die Kommunen nur zu einem bestimmten Teil an die späteren Grundstückseigentümer weitergeben dürfen, so ist es gesetzlich festgelegt.

Die Stadtverwaltung von Bietigheim-Bissingen aber machte, was offenbar unzählige andere Kommunen in solchen Fällen auch machen: Sie gründete eine private Tochtergesellschaft, die die Grundstückserschließung offiziell durchführen sollte. Denn für private Unternehmen gelten andere Regeln: Sie dürfen den späteren Bewohnern einen weitaus höheren Anteil der Erschließungskosten verrechnen - und sie dürfen dabei auch Posten geltend machen, für die die Kommune zur Gänze selbst aufkommen müsste. Für einen Kinderspielplatz etwa.

Die kommunale Tochtergesellschaft von Bietigheim-Bissingen stellte den Grundstückskäufern also eine ordentliche Rechnung, von 25000 Euro je Grundstück ist die Rede. Wie sich der Betrag zusammensetzte, legte sie allerdings nicht offen. Das war der Anfang der Revolution im Neubaugebiet: Zehn der betroffenen Häuslebauer zogen vor Gericht, weil sie die Rechnung für überteuert hielten.

Ein paar Jahre und viele Instanzen später befasste sich nun das Bundesverwaltungsgericht mit Bietigheim-Bissingen und der Frage, was ein Abwasserkanal so kosten dürfe. Der Spruch der Richter brachte nicht nur einen Erfolg für die Kläger, er dürfte für Kommunen in ganz Deutschland ziemlich teuer werden.

Ein privates Unternehmen vorzuschieben, das in Wahrheit aber der Kommune gehöre, und so den Großteil der Erschließungskosten auf die Grundstückskäufer abzuwälzen, sei unzulässig, entschied das Gericht. Konstruktionen wie die in Bietigheim-Bissingen könnten nicht als "Dritte" im Sinne einer privaten Gesellschaft agieren - folglich wären alle Rechnungen, die diese Gesellschaften den Bürgern geschickt hätten, nichtig. "Dieses Urteil ermöglicht Bürgern in ganz Deutschland, zu Unrecht bezahlte Beiträge zurück zu fordern", sagt Sönke Anders von der Anwaltskanzlei Thümmel, Schütze & Partner, die die Kläger vertreten hat. Er erwartet, dass betroffene Käufer für zehn Jahre rückwirkend Ansprüche geltend werden machen können.

Auch die Sprecherin des Bundesverwaltungsgerichtshofs in Leipzig erklärt, Details zu den Rückzahlungsmodalitäten würden wohl in der schriftlichen Urteilsbegründung erläutert, die "in sechs bis acht Wochen" vorliegen werde.

"Eine ganz erhebliche Belastung"

Allerdings werden durch das Urteil die Erschließungsgebühren nicht erlassen, sondern nur gemindert, sagt Anwalt Anders. Denn nach der Rückzahlung hat die Gemeinde wiederum die Möglichkeit, die Kosten in der normalen, für Kommunen zulässigen Höhe in Rechnung zu stellen. "Die finanzielle Belastung wird sich im Schnitt um etwa 20 Prozent verringern", sagt Anders.

Für Deutschlands Gemeinden könnte das empfindliche finanzielle Einbußen bedeuten. Wie viele Kommunen über Tochtergesellschaften überhöhte Gebühren verrechnen, konnte der Städte- und Gemeindebund am Mittwoch nicht sagen. Sollten die Rückzahlungsansprüche der Bürger aber so umfassend sein, wie es sich derzeit abzeichne, wäre dies "eine ganz erhebliche Belastung" für die betroffenen Kommunen, hieß es.

In Bietigheim-Bissingen zeigt man sich ratlos:"Wir wissen noch nicht, von welchen Größenordnungen überhaupt die Rede ist", sagt eine Sprecherin. Man stelle sich aber darauf ein, "dass das unter Umständen wirklich teuer wird." Die Revolution gibt es eben nicht umsonst, auch nicht in Bietigheim-Bissingen.

© SZ vom 09.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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