Balkone:Zimmer im Freien

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Gemütlich in der Sonne liegen, draußen essen, Geranien gießen: Die Deutschen legen besonders großen Wert auf einen Balkon. Dabei hatten die Außenflächen früher eigentlich eine ganz andere Funktion.

Von Rebekka Gottl

Küche, Bad, Balkon: Darauf achten Mieter ganz besonders, wenn sie auf Wohnungssuche gehen. Klar: Lage, Lage, Lage ist und bleibt natürlich wichtig. Der Balkon gehört zum Wohnleitbild aber unbedingt dazu, berichtet Christine Hannemann, Soziologieprofessorin am Institut für Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart. Auch Makler und Bauträger wissen: Ohne ein paar Quadratmeter Außenfläche wird es schwer mit dem Verkaufen oder Vermieten. Selbst in den begehrten Städten. Das war nicht immer so.

Offene Vorbauten gab es bereits in der römischen Antike. Im vergangenen Jahr wurden bei Ausgrabungen in Pompeji bis ins Obergeschoss erhaltene Häuser freigelegt. Unter der Vulkanasche des Vesuvs fanden Archäologen knapp 2000 Jahre alte Balkone, verziert mit bunten Wandmalereien. "Balkone existieren, so lange es die Baugeschichte gibt", sagt Reiner Nagel, Leiter der Bundesstiftung Baukultur. Der Begriff Balkon sei allerdings erst im 18. Jahrhundert entstanden. Abgeleitet vom langobardischen balko, was dem deutschen Balken entspricht, erklärt sich seine architektonische Besonderheit: Ein aus der Fassade ragender Balken trägt die mit einem Geländer versehene Plattform.

In Zeiten ohne Twitter und Instagram waren Balkone vor allem eine große Bühne

Nicht nur die Europäer haben ihren Wohnraum nach außen erweitert. Auch im arabischen Raum wurden kleine Vorsprünge zur Straße hin gebaut, berichtet Klaus Jan Philipp, Professor für Architekturgeschichte an der Universität Stuttgart. "Von den Altanen früher türkischer Häuser konnte man durch ein Holzgeflecht nach draußen schauen." Umgekehrt waren die Frauen auf den balkonartigen Anbauten vor neugierigen Blicken von außen geschützt. Das Gitter spendete außerdem Schatten während der Mittagshitze. In den europäischen Städten der Renaissance hingegen waren Balkone nicht sonderlich attraktiv. Kein Wunder: In den verdreckten Gassen stank der Müll zum Himmel. Das Abwasser floss durch die Städte. Da hat man das Treiben auf der Straße dann doch lieber durch große Fenster beobachtet.

Auf dem Land war zwar schon damals die Luft frischer. Doch auch dort waren Balkone an Schlössern und Villen nicht Aufenthaltsorte. In Zeiten ohne Twitter und Instagram waren sie für die Mächtigen und Prominenten vor allem eine große Bühne. Balkone ermöglichten ein "Sehen und Gesehenwerden", sagt Nagel von der Bundesstiftung Baukultur. Die hohe Plattform bot den Grundbesitzern außerdem einen guten Blick über ihre Ländereien und fungierte als Repräsentationsfläche, um den eigenen Wohlstand angemessen zu demonstrieren. Auf den Balkonen der Bauernhäuser dagegen ging es eher nicht um die Reputation. Dort trockneten vor allem Lebensmittel. In den Städten gewann der Balkon erst im 18. Jahrhundert an Bedeutung, als Kanalisationen gebaut und die Müllentsorgung geregelt wurden. Auch dort hatte er einen repräsentativen Charakter. Architekten entdeckten Balkone immer öfter als Gestaltungselement und schmückten damit ihre Häuser.

Königlicher Showroom: Queen Elizabeth zeigt sich mit ihrer Familie auf dem Balkon des Buckingham-Palasts in London. Anlass war die Militärparade zu ihrem Geburtstag, die üblicherweise im Juni stattfindet. (Foto: Hannah McKay/Reuters)

Immer öfter wurde der Balkon auch eine Bühne, um politische Botschaften unter die Leute zu bringen. "Vom Obergeschoss traten namhafte Persönlichkeiten auf den kleinen Vorsprung, um mit einer Menschenmenge Kontakt aufzunehmen", sagt der Architekturhistoriker Philipp. Vom Balkon des Reichstags zum Beispiel rief Philipp Scheidemann die Weimarer Republik aus, vom Balkon der Prager Botschaft sprach Hans-Dietrich Genscher die berühmten Worte "Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen ...", die das Ende der DDR einläuteten, vom Balkon des römischen Palazzo Venezia stachelte Benito Mussolini die Massen an. Noch heute tritt der Papst auf die Benediktionsloggia des Petersdoms, um den Segen "Urbi et Orbi" zu verkünden. Königspaare zeigen sich der Bevölkerung und lassen sich bejubeln wie der FC Bayern zur Meisterfeier auf dem Münchner Rathausbalkon.

Dabei wird immer auch eine Distanz bewahrt. Die Balkonszene in Shakespeares "Romeo und Julia" ist da ein prominentes Beispiel. Noch schöner zeigen es aber Waldorf und Statler, die alten, lästernden Herren aus der Muppet-Show. Die einen da oben, die anderen da unten: Die Balkon-Perspektive kann im wahrsten Sinne herablassend sein. Nicht nur in der Muppet-Show, sondern auch im Stadtleben. Da wird die Straße zum Theater, beobachtet aus der Ferne, von oben herab kommentiert.

Licht und Luft für alle: Das war ein wichtiger Kerngedanke des neuen sozialen Wohnungsbaus

Mit der Industrialisierung entwickelten die Menschen zwangsläufig ein etwas pragmatischeres Verhältnis zum Balkon. Viele Menschen zogen vom Land in die Städte, die für den Ansturm nicht ausgelegt waren. "Die Konsequenz waren katastrophale Wohnverhältnisse", sagt Soziologieprofessorin Hannemann. Oft teilten sich Großfamilien ein einziges Zimmer. Um die Wohnfläche zu erweitern, wurden sogenannte Küchenbalkone an der Rückseite des Hauses angebracht. Diese waren zum Innenhof orientiert, "aber nicht, weil es da ruhiger war, sondern weil sie so von den Funktionsräumen aus zugänglich waren", erklärt Philipp. Auf den Balkonen lagerte das Gemüse und trocknete die Wäsche.

Im 19. Jahrhundert sind zwar massenhaft Wohnungen entstanden. Nur wenige davon aber hatten Balkone. Die Außenfläche war noch immer ein Privileg. Das änderte sich mit dem Reformwohnungsbau der 1920er-Jahre. Jede Wohnung sollte einen Balkon bekommen, so lautete jedenfalls der Anspruch. Man erkannte, dass sich der Aufenthalt im Freien positiv auf die Gesundheit auswirkte. Licht und Luft für alle: Das war einer der Kerngedanken des sozialen Wohnungsbaus. Auf dem Balkon wurden Luftkuren gemacht und "Licht-Luft-Bäder" genommen, berichtet Architekturhistoriker Philipp. Als wegweisendes Projekt des neuen Bauens gilt die Berliner Hufeisensiedlung, die heute Unesco-Weltkulturerbe ist. Auf den zum grünen Innenhof hin ausgerichteten Balkonen konnten die Bewohner nach Feierabend ihr Bedürfnis nach Natur und frischer Luft stillen, erklärt Hannemann. Durchgesetzt hätten sich Balkone und ähnliche Aufenthaltsorte im Freien aber letztlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau der Städte, so die Soziologieprofessorin.

Gute Aussicht: Für Wohnungseigentümer wird es einfacher, sich den Traum vom eigenen Balkon zu erfüllen. (Foto: Ralph Peters/imago images)

Heutzutage ist der Balkon vieles: Essplatz, Ruhepunkt, Lagerstätte, Treffpunkt, Garten oder Ausguck. Eine eindeutige Funktion gibt es nicht mehr. "Die Vorstellung des Balkons ist die eines zusätzlichen Zimmers im Freien", sagt Architekt John Klepel. Dabei sei der Außenbereich nicht nur eine Schnittstelle zwischen dem privaten Wohnraum und der Öffentlichkeit, sondern auch atmosphärisch, gestalterisch, städtebaulich und rechtlich eine Herausforderung. Mit einer durchschnittlichen Größe von drei bis vier Quadratmetern pro Wohnung braucht man eine entsprechende Tiefe, um ihn möblieren zu können, er soll barrierefrei sein, möglichst geschützt, aber nicht abgekapselt. "Filigrane Geländermotive sind beliebt, weil sie das Erscheinungsbild der Fassade auflockern", sagt Klepel. Meist würden sich die Bewohner nach spätestens einem Monat dann aber doch lieber Tücher, Bastmatten oder die Flagge des Lieblingsvereins vor die Gitterstäbe klemmen, um nicht allzu exponiert zu sitzen.

So ganz privat muss es aber immer öfter nicht mehr sein. Manche Bauträger verzichten zum Beispiel auf Balkone, um Platz und Geld zu sparen. Dafür gibt es dann einen Garten für alle oder eine Gemeinschaftsterrasse auf dem Dach. Die Sharing-Welle hat auch den Balkon erfasst.

Auch andere Trends gehen am Balkon nicht vorbei. In den Metropolen spielen zum Beispiel bepflanzte Häuser eine immer wichtigere Rolle, um das Stadtklima zu regulieren. Die Häuser werden im wahrsten Sinne grün, mit bepflanzten Fassaden, die ihre Umgebung abkühlen. Vertikale Gärten wachsen derzeit vor allem an Hochhäusern in asiatischen Ländern. Aber auch in Europa gibt es viele Ideen oder sogar realisierte Konzepte. Als Beispiel nennt Nagel den Hochhauskomplex Bosco Verticale in Mailand. Dort wachsen an den Balkonen keine bienenfeindlichen Geranien, sondern ganze Bäume und Sträucher, die Lebensräume für Insekten und Vögel schaffen.

Die Außenfläche ist allerdings immer auch ein Kostenfaktor. So ergab im vergangenen Jahr die Auswertung eines Immobilienportals, dass für Wohnungen mit Balkon etwa 22 Prozent mehr Miete pro Quadratmeter anfallen. "Ein Balkon trägt zum lebendigen Wohnen bei", sagt Nagel, "und sollte kein Luxus sein, sondern der Standard der Zukunft."

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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