In deutschen Großstädten kommen auf 1000 Einwohner etwa 450 Pkw. Diese Fahrzeuge brauchen Platz. Deshalb gibt es bei Neubauten - nach der Reichsgaragenordnung von 1939 - die Pflicht, Parkplätze für Bewohner anzulegen. Viele Landesbauordnungen sehen pro Wohnung einen Stellplatz vor. Das erhöht die Baukosten etwa um 300 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche und geht zu Lasten vor allem der Kinder, die mit zugeparkten Höfen und Straßen aufwachsen. Damit wollen sich nicht alle Eltern abfinden.
"In unserer autofreien Siedlung wohnen vor allem junge Familien. 80 Prozent sind hierher gezogen, damit ihre Kinder sich vor dem Haus frei und ohne Gefahr bewegen und mit anderen spielen können", sagt Hans-Georg Kleinmann vom Vorstand des Vereins Nachbarn 60. Im Kölner Stadtteil Nippes leben auf einem fünf Hektar großen ehemaligen Eisenbahngelände, dem Stellwerk 60, etwa 1500 Menschen in 460 Haushalten. 80 Prozent wohnen hier zur Miete, der Rest hat Eigentum erworben. In einem Parkhaus am Rand der Siedlung gibt es 80 Pkw-Stellplätze, die für bis zu 20 000 Euro verkauft wurden. Wer dort keinen Parkplatz hat, muss sich dazu verpflichten, auf einen eigenen Wagen zu verzichten.
Autoverkehr ist in der Siedlung tabu, mit wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel für Krankenwagen, Umzugsunternehmen oder die Straßenreinigung. Wichtig sind aber Alternativen zum Auto: Ganz in der Nähe fährt der Bus, Straßenbahn und S-Bahn-Stationen sind etwa 500 Meter entfernt. Zwanzig Carsharing-Fahrzeuge stehen am Rand der Siedlung bereit, mehr als die Hälfte der Bewohner nutzen sie zu einem Sondertarif. Eine Tiefgarage bietet zudem genügend Platz für Räder plus Anhänger. In einer Mobilitätsstation kann man Sackkarren, Fahrradanhänger, Tandems, Gokarts oder Einräder ausleihen.
Autos verboten: Der New Yorker Central Park gehört in den Ferien den Zweibeinern, Zwei- und Dreirädern. Die Verbannung der Fahrzeuge soll die Luft verbessern. Autofreie Viertel fänden auch hierzulande viele gut.
(Foto: Don Emmert/AFP)Kleinmann ist überzeugt, dass der Zusammenhalt hier besonders groß ist: "Man trifft sich viel häufiger auf der Straße. Es gibt viele öffentliche Bänke. Man kann auch einfach seine Biertischgarnitur vor dem Haus aufstellen und zusammen feiern, dafür muss man nicht wie sonst üblich einen Antrag beim Ordnungsamt stellen." Und die vor dem Haus spielenden Kinder sorgen meist für gute Stimmung und Kontakte zwischen den Eltern.
Ein Projekt in Bremen ist gescheitert, weil das vorgesehene Gebiet zu abgelegen war
"Autofreie Siedlungen, die diesen Namen verdienen, bestehen in Deutschland außer in Köln noch in Münster, Hamburg und Freiburg", sagt Kleinmann, der beim Verkehrsclub Deutschland (VCD) Experte für dieses Thema ist. Er berichtet von vielen erfolglosen Versuchen, in anderen Städten solche Siedlungen aufzubauen - dies sei zum Beispiel in Bremen daran gescheitert, dass das dafür vorgesehene Gebiet zu ablegen gewesen war und eine schlechte Nahverkehrsanbindung hatte.
Auch in Münster haben sich in der Gartensiedlung Weißenburg alle Bewohner bereit erklärt, auf einen Pkw zu verzichten. Dabei ist man pragmatisch: Wer plötzlich aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen doch ein eigenes Auto braucht, kann sich an die Schlichtungsstelle des Vereins Autofreie Gartensiedlung Weißenburg wenden. "Seit dem Einzug der ersten Mieter im Jahr 2001 haben wir ein paar Ausnahmegenehmigungen erteilt", sagt Norbert Regniet vom Vereinsvorstand. Am Rand der Siedlung gibt es zehn Stellplätze für Carsharing-Autos und einige Parkplätze für Besucher. Pro Haushalt ist normalerweise ein 25 Quadratmeter großer Stellplatz vorgesehen; das entspricht bei 138 Wohnungen einem Flächenverbrauch von 3450 Quadratmetern sowie Baukosten von 307 000 Euro. In Weißenburg werden nur 250 Quadratmeter für die Stellplätze benötigt, bei Baukosten von 15 000 Euro.
"Der Stellplatzschlüssel bei uns ist deutlich niedriger als eigentlich vorgesehen. Das hat die Stadt Münster so entschieden", sagt Regniet. Er verschweigt nicht die anfänglichen Vorbehalte in der Nachbarschaft: "Die Angst war groß, dass unsere Besucher ihre Straßen zuparken, doch dazu ist es nicht gekommen." Alle Wohnungen in Weißenburg sind Sozialwohnungen - hier leben Menschen, die sich kein Auto leisten können oder wollen. Ursprünglich wollte der private Bauträger die Wohnungen verkaufen - doch dafür fehlten Interessenten, die sich ein Leben ohne eigenes Auto vorstellen können.
Wer in einer autofreien Siedlung wohnt, soll auf den eigenen Pkw verzichten. Damit niemand auf die Idee kommt, in einer solchen Siedlung zu leben, aber seinen Wagen in der angrenzenden, nicht-autofreien Nachbarschaft zu parken und den Mitbürgern dort Stellplätze wegzunehmen, gibt es Regeln. In Münster schlossen die Mieter eine "besondere Vereinbarung zur Kfz-Freiheit der Gartensiedlung - Wohnen Plus" ab, in der festgelegt wurde: "Ich verpflichte mich, kein Kraftfahrzeug zu halten oder in unmittelbarem Besitz zu haben bzw. solche zu nutzen....".
Nachdem mehrere Mieter dennoch einen eigenen Wagen nutzten, versuchte der Vermieter sie gerichtlich zum Verkauf ihrer Autos zu zwingen und bei Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von 250 000 Euro festzusetzen - ohne Erfolg. Das Amtsgericht Münster hat in einem Urteil von 2014 festgestellt: "Die Klausel verbietet dem Mieter ohne Ausnahme das Halten, das in unmittelbarem Besitzhaben sowie die Nutzung von solchen Kraftfahrzeugen. Die Klausel benachteiligt die Beklagten entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen und ist daher unwirksam." An anderer Stelle der Urteilsbegründung heißt es: "Durch die Absolutheit des Verbotes geht die Klausel ... über das zur Erreichung des legitimen Ziels erforderliche Maß deutlich hinaus." Seitdem ist klar, dass juristisch ein Autoverbot nur schwer durchzusetzen ist.
"Wir in der autofreien Siedlung Köln setzen auf sozialen Druck", sagt Hans-Georg Kleinmann, Vorsitzender des Bewohnervereins. Er geht davon aus, dass mehr als 30 Hausbesitzer oder Mieter einen eigenen Wagen nutzen, trotz der Unterschrift unter den Vertrag, wonach Bewohner weder ein Auto noch ein motorisiertes Zweirad besitzen dürfen. Dies habe fatale Folgen. Anwohner aus der angrenzenden Nachbarschaft ärgerten sich über schwarze Schafe aus der autofreien Siedlung, die in den engen Straßen von Köln-Nippes zur Verschärfung der Parkplatzsituation beitrügen. Politiker blockierten mit dem Hinweis auf solche negativen Erfahrungen die Schaffung weiterer autofreier Siedlungen. Interessenten einer echten Autofreiheit hätten keine Chance auf eine Wohnung, weil Autonutzer nicht aus der autofreien Siedlung auszögen. Kleinmann hat daraus seine Folgerungen gezogen: "Letztlich ist jedoch nur die konsequente Parkraumbewirtschaftung im Umfeld ausreichend wirksam. Eine solche möge die Stadtverwaltung endlich auf allen umgebenden Straßen einführen, nicht zuletzt, um den sozialen Frieden wiederherzustellen." Sprich: Überall in der Nachbarschaft von autofreien Siedlungen sollen die Parkplätze an die Anwohner vergeben werden.
Kleinmann weiter: "Selbst in bestehenden Quartieren können das Wohnumfeld und die Lebensqualität durch Autofreiheit erheblich verbessert werden. Hier müssten Stellplätze am Rand des Quartiers vorgehalten werden." Seine Überzeugung: Wenn der Autobesitz kein Tabu mehr wäre, würden mehr Menschen in Viertel ziehen, in denen keine Autos fahren dürfen - die bei Umfragen immer wieder geäußerte hohe Zufriedenheit mit der Wohn- und Aufenthaltsqualität und die geringe Fluktuation in autofreien Siedlungen sprechen dafür. Joachim Göres
"Der Begriff autofrei ist eher ein Reizwort. Ausnahmen gehören mit dazu, eine Kombination mit Carsharing ist nötig", sagt Mechthild Stiewe, Raumplanerin beim Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund. Sie hat Modelle im In- und Ausland untersucht und sieht als größtes Hindernis in Deutschland für Siedlungen mit weniger Autos die Landesbauordnungen, die einen Stellplatznachweis pro Haushalt vorschreiben. Länder wie Berlin und Hamburg haben mittlerweile diese Pflicht für neue Wohnbauten abgeschafft.
"In Nordrhein-Westfalen hat man die Zuständigkeit auf die Kommunen verlagert. Seitdem kämpfen verschiedene Initiativen mit den Verwaltungen, die an der Stellplatzpflicht festhalten", sagt Stiewe. Sie sieht noch andere hemmende Faktoren: Eigenheimsiedlungen und Gewerbegebiete in der Nähe eignen sich nach ihrer Erfahrung nicht für solche Modelle. Außerdem: Für den Fall, dass jemand seinen Verzicht auf ein Auto erklärt habe und sich dennoch eines anschaffe, fehle es an juristisch wasserdichten Regelungen. Stiewes Appell: "Die Zahl der Fahrzeuge steigt weiter und damit der Flächenverbrauch und die Treibhausgas-Emissonen. Das kann nicht so weitergehen."
Der VCD, Deutscher Mieterbund und das Öko-Institut untersuchen derzeit in Modellregionen, wie es leichter werden könnte, ohne Auto auszukommen. In dem Projekt "Wohnen leitet Mobilität" sollen Wohnungsunternehmen in den Regionen Hannover, Kiel, Chemnitz, Berlin-Brandenburg und Rhein-Main Anregungen bekommen und Mieter angesprochen werden. Als Ansätze gelten die Einsparung von Baukosten durch einen reduzierten Stellplatzschlüssel, die bessere Anbindung eines Quartiers an den öffentlichen Nahverkehr und die Einführung von übertragbaren ÖPNV-Monatskarten für Mieter. Der Ausbau der Fahrradinfrastruktur sowie mehr Informationen zum Autoteilen.
Die Fraunhofer-Gesellschaft sucht derzeit im Projekt "Morgenstadt" nach umweltfreundlichen Mobilitätslösungen in Großstädten. Projektleiter Alanus von Radecki ist überzeugt, dass Privatautos künftig zur Ausnahme werden müssen, damit es mehr Raum für Grünflächen gebe. Der sei angesichts steigender Temperaturen in den Metropolen dringend nötig, damit sich die Luft abkühlen könne.