Architekten:Gestalter unter Druck

Lesezeit: 4 min

Alt- und Neubau in Frankfurt. Architekten prägen durch ihre Gebäude auch Lebensstile. (Foto: imago/Westend61)

Seit 1989 hat sich die Zahl der Baumeister in Deutschland fast verdoppelt. Der Wettbewerb wird härter.

Von Oliver Herwig

Einskommadreiundsechzig. Das ist laut Bundesarchitektenkammer die aktuelle Architektendichte in Deutschland, sie bezieht Hochbauarchitekten, Stadtplaner sowie Landschafts- und Innenarchitekten ein. Auf je 614 Einwohner kommt ein Architekt oder eine Architektin. Spitzenreiter sind Hamburg (351), Berlin (408) und Baden-Württemberg (432). Hier leben und arbeiten bis zu fünf Mal mehr Architekten als in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt. Dahinter verbergen sich ein Wohlstandsgefälle sowie ausgeprägte Stadt-Land-Differenzen.

Was in der Metropole angesagt ist, muss noch lange nicht für ein Flächenland gelten. Nur eines gilt hier wie dort: Häuser bleiben erst mal stehen, 30 Jahre und länger. Daher ist es vielleicht doch gut, wenn Profis die Sache angehen: Architekten. In absoluten Zahlen hat sich ihre Zahl seit 1989 nahezu verdoppelt, von 72 680 auf 134 419. Kritiker werfen hier gerne ein, dass man diese geballte Gestaltungskraft dem Land kaum ansieht angesichts wachsender Vorstädte und wuchernder Gewerbegebiete. Wie viele Architekten daran beteiligt sind, darüber schweigt die Statistik. Genaue Zahlen hat nicht einmal die Bundesarchitektenkammer, sie geht von einem "Großteil" aus. Was machen also diese Menschen, die ja nicht nur ein Haus errichten oder einen Park, eine Brücke oder ein öffentliches Gebäude, sondern immer auch Gemeinschaft bauen. Und damit Gesellschaft? Barbara Ettinger-Brinckmann, seit 2013 Präsidentin der Bundesarchitektenkammer, sagt: "Was wir bauen, muss dazu beitragen, dass wir miteinander in einer Gesellschaft leben und nicht nebeneinander. Wir wollen mit unseren Bauten die Begegnung fördern, nicht die Abschottung."

Die Moderne sah sie als Gewinner. Hochhäuser und Hütten, Fabriken und Möbel, Städte, ja ganze Landschaften und halbe Länder - es gab wenig, was Baumeister nicht konnten. Zumindest stellten sich die Heroen des 20. Jahrhunderts gerne so dar: Le Corbusier, wie er mit einem Finger über den Plan Voisin weist, mit dem er halb Paris dem Erdboden gleichgemacht hätte - in gottgleicher Pose. Oder Frank Lloyd Wright, der kleine Mann mit dem großen Ego am Zeichentisch, hinter ihm ein übergroßes Hochhausmodell.

Heute zeigt sich ein ganz anderes Bild. Architekten können durchaus als Dienstleister auftreten. Es heißt, die härtesten Bauleiter seien Frauen, Architektinnen, die offenbar ganz genau wissen, wen sie freundlich ermahnen und wen zur Rede stellen müssen. Sonst ist die Rollenverteilung eher klassisch: 61 Prozent der Innenraumgestalter sind weiblich, aber nur 32,5 Prozent der Hochbauer. An der Uni ist der Wandel längst angekommen. Dort studieren oft mehr Frauen als Männer. Liegt das daran, dass die Zeiten des Herrn Diplomingenieurs vorbei sind und Gestaltung als netter Zusatz gilt und nicht mehr als unverzichtbarer Teil des Bauens?

Dabei sind die "Baukünstler" vom Selbstverständnis her Universalisten: in den schönen Künsten ebenso zu Hause wie in der Welt der Zahlen. Sie gehen mit Worten ebenso gut um wie mit dem Zeichenstift oder dem CAD-Programm am Rechner. Vorbei sind die Zeiten der schwarzen Rollkragenpullover, Fliegen und Cordhosen. Architekten treten gerne lässig auf, mit Stil, sodass gutes Schuhwerk irgendwie dazugehört. Dazu schreiben, twittern, chatten und telefonieren sie wie andere Manager, die Termine abarbeiten und Notwendigkeiten koordinieren.

Bauskandale werden oft Architekten angelastet. Gute Arbeit erwähnt kaum einer

Architektur ist nicht Design, das überall funktionieren muss, Häuser sind an ganz konkrete Umwelten gebunden, sie leben vom Kontext, den sie bereichern können oder zerstören. Das wichtigste Instrument der Architekten ist daher nicht etwa der Zeichenstift, es ist der offene Wettbewerb, aus dem sich idealerweise die besten Lösungen für einen ganz bestimmten Ort ergeben. Damit ist die Geschichte nicht vorbei, im Gegenteil. Wettbewerbsgewinne führen oft zu ganz abenteuerlichen Folgen - und gemeint ist gar nicht der Fall, in dem der dritte Platz nach einer Überarbeitung beauftragt wird. Und wenn ein Büro zufällig ein paar Feuerwachen in ordentlichen Wettbewerben gewonnen hat, gelten sie für alle Zeit als Spezialisten für solche Brandsachen - und kommen kaum mehr davon weg, obwohl sie sich als Universalisten verstehen. Das ist etwa so sinnvoll, als dürften Autoren nur noch Theaterstücke und keine Romane mehr schreiben, weil ihr Erstling es auf die Bühne schaffte.

Der Trend zur Spezialisierung schreitet unaufhaltsam voran, begünstigt von Verfahren, die sich um den offenen Architektenwettbewerb drücken wollen. Wenn sich Architekten etwa um einen Krankenhausneubau bewerben, müssen sie oft schon diverse Kliniken im Portfolio haben und eine Mindestzahl Mitarbeiter vorweisen. Für alles gibt es Punkte. Mit Gestaltungskraft hat das wenig zu tun. Volkwin Marg und Meinhard von Gerkan etwa gewannen den Wettbewerb um Berlin-Tegel frisch von der Uni - und sie sind nicht die Einzigen, die bewiesen, dass gute Ideen nicht an die Zahl der Rechner im Büro gebunden sind. Daneben gibt es noch einen anderen Wettbewerb. Zur Spezies Architekt kommt neben standesgemäßer Solidarität mit Kollegen auch die Tatsache, dass die in der Kammer verbundenen Freigeister doch ständig als Mitbewerber auftreten. Wer manche Kommentare im Netz liest, braucht eigentlich keine Architekturkritik mehr. Das erinnert eher an ein Baugericht, bei dem Kollegen Ankläger- und Richterrolle in einer Person wahrnehmen. Zu einer dieser Online-Duelle bemerkte ein Teilnehmer süffisant: "Ihr Berliner habt halt keinen Senf und müsst deshalb persönlich werden." Kollegenschelte hat Tradition. Heute denkt man auch an (vermeintliche) Bauskandale, die oft Architekten angelastet werden, die im Erfolgsfall aber kaum erwähnt werden. Ein seltsames Missverhältnis.

Und weil heute alles schneller und besser geht, ist man manchmal tatsächlich überrascht, dass das fertige Bauwerk tatsächlich fast so gut aussieht wie das Rendering am Computer. Wie auch immer: Die Dirigenten der Baustelle zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen vernünftiger räumlicher Organisation und guten Wohnungen, Freibädern und Büros, die einem das Gefühl geben, an einem ganz bestimmten Ort zu sein und nicht im Irgendwo der Quadratmeter, die in Shanghai mit gleicher Effizienz abgespult werden wie in London oder Bonn. Wer glaubt, dafür bräuchte es doch gar nicht so viele Architekten, sondern nur bessere, und Deutschland stünde doch sowieso an der Spitze, irrt: Italien schlägt uns, ebenso Portugal, Dänemark, Griechenland, Luxemburg und Malta.

© SZ vom 05.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: