Bisher ging der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels fast immer an Personen, die sich um Menschenrechte, Demokratie und Aussöhnung an den Brandherden der Welt verdient gemacht hatten. Jaron Lanier, der diesjährigen Preisträger, hat im Gegensatz dazu ein Menschheitsproblem benannt und umrissen, dessen sich viele noch gar nicht bewusst sind. Sein Thema sind die Konsequenzen, die der ungebremste Machtzuwachs der Internetkonzerne für die Freiheit und die Lebensbedingungen jedes Einzelnen haben könnte. Kritiker an der gegenwärtigen Entwicklung gibt es viele: Manche sind Kulturpessimisten, andere sorgen sich wegen der Überwachung durch Staat und Konzerne oder der amerikanischen Dominanz über das Netz. Lanier ist der Einzige, der versucht, die völlig neuen ökonomischen Strukturen hinter den freundlichen Fassaden der "Sirenenserver" aufzudecken.
Wenn Lanier bei Konferenzen auf der Bühne steht, spielt er die Rolle der Digital-Kassandra denkbar eindrücklich. Schon äußerlich hat der 54-Jährige wenig mit den Start-up-Millionären in spe zu tun, die bei Digitalfestivals auf Investorensuche sind. Er ist ein riesiger Mann mit Dreadlocks, die ihm bis über das T-Shirt hängen. Und statt der Powerpoint-Fernbedienung nimmt er bei seinen Auftritten als Erstes eine Khene, eine Esraj oder ein anderes obskures Instrument zur Hand - und entlockt ihm eine schüchterne Improvisation. Dass während dieser Einlagen niemand den Saal verlässt, liegt weniger am Niveau von Laniers Spiel - er hat mit Philip Glass, Ornette Coleman, Terry Riley und anderen Avantgardisten gespielt - sondern an seinem Status in der Netzwelt. Lanier mag den weisen Narr spielen, doch in Wahrheit ist er viel tiefer mit der digitalen Kultur vertraut als die Braven, Begabten und Cleveren, die heute die Tech-Branche anführen.
Viele Größen kamen aus den Mittelklasse-Suburbs. Lanier nicht.
Lanier trennen von diesen auch biografisch Welten. Die meisten von ihnen wuchsen sorglos in Mittelklasse-Suburbs auf, in großen Häusern mit großen Garagen und Platz zum Basteln. Die Laniers hatten keine Garage. Zeitweise hatten sie nicht einmal ein Haus. Seine Mutter, die Künstlerin war, stammte aus Wien und emigrierte nach ihrer Befreiung aus dem KZ in die USA. Sein Vater, ebenfalls Jude, war vor den Pogromen aus der Ukraine geflohen. Lanier kam 1960 in New York auf die Welt. Bald darauf zog die Familie nach El Paso. Lanier besuchte eine Schule auf der anderen Seite der mexikanischen Grenze, in Ciudad Juárez, nachmittags übte er auf dem Steinway oder sah sich Kunstbände an. "Schokolade essen, Bach hören und Bilder von Hieronymus Bosch ansehen: Das war für mich das Größte", erzählte er dem New Yorker. "Ich hatte keine Freunde."
Als Lanier zehn Jahre alt war, starb seine Mutter bei einem Unfall. Er wurde schwer krank und verbrachte ein Jahr im Krankenhaus. Bevor er entlassen wurde, brannte das Haus der Familie ab. Inspiriert von den Buckminster-Fuller-Kuppeln entwarf Lanier ein neues. Doch weil kein Geld da war, zog sich der Bau über Jahre hin. Mit seinem Vater lebte er währenddessen in einem Zelt. Laniers erster Freund wurde der Astrophysiker Clyde Tombaugh, der 1930 den Zwergplaneten Pluto entdeckt hatte. Er lernte ihn an der New Mexico State University kennen, wo er mit 13 ein Mathematikstudium aufnahm und programmieren lernte.
Was folgte, war eine Blitzkarriere in der jungen Computerindustrie. Bei Atari und anderen Firmen komponierte Lanier Soundtracks für Videospiele und arbeitete an einer "post-symbolischen Programmiersprache", doch sein Hauptinteresse galt der "virtuellen Realität". Ende der Neunziger interessierte sich kaum mehr jemand für diesen Nebenstrang der digitalen Entwicklung. Lanier hingegen war weiterhin fasziniert von künstlichen digitalen Welten. Als Berater der Forschungsabteilung von Microsoft, seit Jahren sein wichtigster Arbeitgeber, war er an der Entwicklung des millionenfach verkauften Videospielsystems Kinect beteiligt, bei dem Kameras die Bewegungen des Spielers in Befehle übersetzen.