Enthüllungsbuch: "Inside Wikileaks":Der große Bluff

Seine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt: Wikileaks-Aussteiger Daniel Domscheit-Berg erzählt in seinem Enthüllungsbuch von enttäuschter Liebe zu Julian Assange - und dem großen Bluff.

Niklas Hoffman

Es ist noch kein Jahr her, da hätte der Mann, der damals noch Daniel Berg hieß, sich "nichts mehr gewünscht", als dass Julian Assange zu seiner Hochzeit käme, obwohl in ihrem Verhältnis da schon längst nicht mehr alles zum Besten stand. Schließlich, so schreibt er heute, sei Julian doch so etwas wie sein bester Freund gewesen.

Von dieser Freundschaft zwischen dem Wikileaks-Gründer und dem Mann, der unter dem Pseudonym Daniel Schmitt lange das deutsche Gesicht der Whistleblower-Plattform war, ist jedenfalls nicht viel geblieben. Der Berliner Rechtsanwalt Johannes Eisenberg verbreitete am Mittwoch im Namen von Julian Assange eine Presseerklärung "zu Mitteilungen des Domscheit-Berg", in der die von diesem "entwendeten ...Datenbestände" zurückgefordert werden, und in der es am Schluss heißt, er, Eisenberg, habe den Auftrag "gegen die von DB über Herrn Assange verbreiteten Verleumdungen vorzugehen".

Dass das, was Julian Assange überhaupt schon bekannt ist, was er nun als Verleumdungen bezeichnen lässt, obwohl "Inside Wikileaks", Daniel Domscheit-Bergs Buch über seine "Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt", erst heute erscheint und vom Verlag mit strenger Sperrfrist versehen war, dürfte in einer Welt, in der die potenziellen Whistleblower in allen Ecken sitzen, natürlich nicht mehr ernsthaft überraschen.

Aber eine charmante Volte liegt schon darin, dass die ersten Auszüge ausgerechnet auf Cryptome durchsickerten, der Leaking-Seite des eigenwilligen Amerikaners John Young, der einst so etwas wie das Vorbild für Wikileaks abgab und längst mit Genuss die Rolle von Julian Assanges Nemesis spielt. Denn es war, so schildert Daniel Domscheit-Berg es, die Seite Cryptome, über die er erstmals auf Wikileaks stieß und damit auf den Mann und die Idee, die seither sein Leben prägten.

Wenn man "Inside Wikileaks", das mit Hilfe der Journalistin Tina Klopp entstanden ist, nach der Lektüre von knapp 300 Seiten aus der Hand legt, dann hat man die Geschichte einer enttäuschten und die einer erfüllten Liebe gelesen - und dabei wäre die Beziehung zu Domscheit-Bergs heutiger Ehefrau noch gar nicht mitgezählt.

Die Rede ist von der enttäuschten Liebe zu der Person Julian Assange. Und von der nach wie vor frischen Liebe zu der Idee der radikalen Transparenz, der Offenlegung des Geheimen und Arkanen, der Domscheit-Berg nun mit seiner eigenen Plattform Openleaks Geltung verschaffen will.

Wurzeln im Anarchismus

Es ist, soviel vorweg, vielleicht das größte Manko dieses Buchs, das ungemein aktionszentriert über gut drei Jahre der Wikileaks-Historie berichtet, dass die Frage nach der Triebfeder, nach den Wurzeln dieser Liebe zur Transparenz nur angerissen wird. Dabei bekennt sich Daniel Domscheit-Berg mehr beiläufig durchaus zur Vorstellungswelt des Anarchismus. Sein geistiger Held ist Pierre-Joseph Proudhon, der Ökonom und anarchistische Denker des 19. Jahrhunderts, dessen Buch "Was ist das Eigentum?" er für das "bedeutendste Buch" hält, "das je geschrieben wurde".

Auch Gustav Landauer stand in seiner Wikileaks-Zeit auf seiner Leseliste. Und zustimmend zitiert er einen isländischen Aktivistenkollegen, der sich wiederum auf den 1958 gestorbenen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker bezieht: Er sei Anarchist, nicht weil er glaube, dass Anarchismus das Endziel sei, sondern weil er glaube, dass es so etwas wie ein Endziel nicht gebe.

Man wüsste gerne mehr darüber, wie sich solche Grundüberzeugungen, über ein allgemeines Bekenntnis zum Subversiven hinaus, auf sein Handeln bei Wikileaks ausgewirkt haben. Und auch darüber, wie intensiv er sich mit Julian Assange über die geistigen Grundlagen der eigenen Arbeit ausgetauscht hat. Von dem gemeinsamen Glauben an eine bessere Weltordnung ist im Buch die Rede. Und dem Traum von einer Welt, in der "es weder Chefs noch Hierarchien gegeben" hätte.

Zwei-Mann-Betrieb hinter der Rhetorik

Ansonsten lässt das Buch an detailreichen Einblicken in das Leben mit - fast hätte man gesagt "an der Seite von" - Julian Assange wenig offen. Im Herbst 2007 stieß Daniel Berg, der als Netzwerkingenieur einer IT-Firma Großkunden wie GM/Opel oder Fluglinien betreute, zu Wikileaks, das damals ein knappes Jahr existierte. Schnell wurde er, der dafür sogar seinen sicheren Job aufgab, dort zum wichtigsten Mann neben Julian Assange. Trotz später wachsender Spannungen blieb er es bis zum Sommer 2010.

Frappierend ist nun vor allem, wie Domscheit-Berg die Wikileaks-Story als Geschichte eines phänomenalen Bluffs offenbart. Denn über die längste Zeit ihres Bestehens gab es bei der Plattform, folgt man der Darstellung im Buch, neben der rechten Hand gar keine linke, war Wikileaks ein reiner Zwei-Mann-Betrieb, der zeitweise aus Domscheit-Bergs Wiesbadener Tiefparterrewohnung heraus geführt wurde. Bis Ende 2009 wurden alle Geheimdokumente nur von den Herren Assange und Berg in Empfang genommen und auf Authentizität geprüft, niemand sonst hatte Zugriff.

Der Öffentlichkeit gegenüber behauptete man dagegen stets, einen großen und aktiven Helferkreis von mehreren hundert Personen zu haben. Dafür wurden als Freiwillige und Helfer in Wahrheit all jene Menschen mitgezählt, die sich unverbindlich auf einer Mailingliste eingetragen hatten, ohne jemals in irgendeiner Weise bei Wikileaks aktiv zu werden.

ein Pseudonym von Assange

Und der Bluff reichte weiter. Jay Lim, der angebliche Rechtsberater der Plattform, war offenbar ein Pseudonym Assanges. Domscheit-Berg lässt durchblicken, dass er auch die von Assange verbreitete Wikileaks-Gründungslegende, in der unter anderem chinesische Dissidenten eine Rolle gespielt haben sollen, nicht für bare Münze nimmt.

Zum anderen aber, und das ist relevanter als solche Münchhausiaden, bestand auch die technische Infrastruktur lange nicht in der Form, wie öffentlich verbreitet wurde. Die an Wikileaks übermittelten Daten waren anders als nach außen erklärt, nicht doppelt und dreifach gesichert, sondern lagerten auf einem einzigen, schwachbrüstigen Server.

Und damit ist man beim zentralen Vorwurf, den Domscheit-Berg Julian Assange macht: Er sei zwar in Fragen der eigenen Sicherheit seit jeher geradezu paranoid gewesen, kümmere sich aber schlicht zu wenig um das ganz zentrale Versprechen von Wikileaks, den unbedingten Schutz der Daten und der Whistleblower.

Das sei der Grund dafür, dass Domscheit-Berg und der sogenannte Architekt, der wichtigste Wikileaks-Techniker, bei ihrem Weggang im September 2010 Softwareentwicklungen und vor allem bei Wikileaks deponiertes Material mitgenommen hätten, das sie erst zurückgeben wollen, wenn Assange für deren Sicherheit garantieren könne.

Wikileaks funktionsuntüchtig?

Doch bei Wikileaks tue sich nichts. Im Gegenteil, die seit Monaten unverschlüsselte Website sei ein weiteres Risiko, weil potentielle Whistleblower, die sich auf der Seite informieren möchten, problemlos von Geheimdiensten oder anderen Interessierten überwacht werden könnten. Domscheit-Berg geht so weit, dass er Wikileaks im Augenblick für funktionsuntüchtig hält. Weil Assange die Technik nicht in Ordnung bringt, und weil er irgendwelchen isländischen Teenagern Verantwortung überträgt, die gar keinen Überblick haben.

Den GAU von Wikileaks, die Verhaftung des US-Gefreiten Bradley Manning, von dem das amerikanische Militär annimmt, er sei verantwortlich für die großen Lecks im Fall von Irak, Afghanistan und den Diplomaten-Depeschen, schildert Domscheit-Berg als Schock für alle Beteiligten. Vollmundig habe Assange damals im Mai 2010 angekündigt, die besten Anwälte zu besorgen, und um 100.000 Dollar Spenden für Mannings Verteidigung gebeten.

Doch sei sein Interesse an der Causa Manning schon nach kürzester Zeit wieder eingeschlafen und von den Anwälten nie wieder die Rede gewesen. Bis Ende 2010 sei von dem eigens für Manning eingeworbenen Geld nicht ein Cent an dessen Unterstützer gegangen. Erst im Januar 2011 habe die Wau-Holland-Stiftung, die in Deutschland die Spendeneinnahmen von Wikileaks verwaltet, 15.000 Dollar an ein Manning-Unterstützerkonto überwiesen. Für Domscheit-Berg ist es ein schmähliches Versagen, von dem er sich selbst nicht ausnimmt.

Als es dagegen um Julian Assanges eigene Verteidigung ging, soll der sich massiv über den mangelnden Einsatz des inzwischen angewachsenen Wikileaks-Teams beklagt und eine Unterstützung verlangt haben, die jede Kritik an ihm ausschloss. "Don't challenge leadership in times of crisis", lautete nun sein eisernes Gebot nach innen.

Unfassbar gedankenloser Chaot

Jene Krise der schwedischen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange vermag Domscheit-Berg aber nur als eine ganz persönliche des Wikileaks-Gründers sehen, nicht als einen Angriff auf die gemeinsame Arbeit. Domscheit-Berg will nicht an die Verschwörung schwedischer Staatsanwältinnen mit der CIA glauben, von der Assange und seine Fans überzeugt sind.

Zu Verschwörungstheorien neigt Assange seit jeher, das war bekannt. In "Inside Wikileaks" erscheint er nun auch als, angesichts der Größe seiner selbst gestellten Aufgabe, unfassbar gedankenloser Chaot, der etwa den an der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente beteiligten Medienhäusern eine umfassende Redaktion und Anonymisierung zusagte, diesen Auftrag aber an niemanden weitergab. Als Domscheit-Berg durch Zufall davon erfuhr, musste kurz vor der Deadline in tagelanger Arbeit ohne Schlaf die fest versprochene "Harm Minimization" zum Schutze Unbeteiligter nachgeholt werden.

Daniel Domscheit-Berg zeichnet Assange als eine manische Figur, einen Mann mit unwahrscheinlichen Gaben, der Beispielloses erreicht, aber sein eigenes Werk auch nach Kräften selbst wieder einreißt. "Ich habe noch nie so eine krasse Persönlichkeit erlebt wie Julian Assange", heißt es am Anfang des Buchs. "So freigeistig. So energisch. So genial. So paranoid. So machtbesessen. Größenwahnsinnig." Wer Julian Assange zuvor bereits mit Skepsis betrachtete, wird in diesem Buch alles bestätigt finden, was er sich aus dessen medialem Bild an negativen Zuschreibungen zurechtgelegt hat.

Finanziell ausgenutzte Frauen

Da gibt es den manipulativen, misstrauischen Assange, der über die Maßen eifersüchtig darüber wacht, dass nur er allein als "Wikileaks-Gründer" bezeichnet wird, der Frauen finanziell ausnutzt, und damit prahlt, in wie vielen Ländern der Welt er Nachwuchs habe, der autoritär ist, die Arbeit anderer mit Geringschätzung behandelt, und der als nahezu reflexhafter Lügner erscheint.

Daneben lernt man den etwas sympathischeren, wirren Assange kennen, der unfähig ist, einen Koffer zu packen und lieber mehrere Schichten Kleidung übereinander trägt, der sich noch nach Monaten in einer Wohnung auf dem Heimweg stets verläuft, der wichtige Flüge nicht bucht, oder aber bucht und dann nicht bezahlt, der mehrere Tage scheinbar nicht schläft oder isst, um dann plötzlich anfallsweise Zitrusfrüchte zu verschlingen oder sich ganze Packungen Ovomaltine-Pulver in den Rachen zu schütten, ein Mensch, der scheinbar "von Wölfen großgezogen" worden war.

Wie das so ist, wenn man über eine enttäuschte Liebe berichtet, kommen Assanges positive Züge, seine Energie, sein durchaus vorhandener Charme und gelegentlich aufscheinender Humor, in "Inside Wikileaks" eher zu kurz. Es gibt sie aber, daran lässt das Buch auch keinen Zweifel, denn Domscheit-Berg hat die Beziehung zu Assange wohl als wirkliche Partnerschaft, als tiefe Freundschaft empfunden.

Wie wechselseitig diese wirklich war, daran zweifelt er jedoch heute. Manches in seinem Verhalten, so mutmaßt er, habe Assange wohl als Gesten der Unterwerfung gedeutet. Armselig habe er es etwa gefunden, ließ Assange ihn später wissen, dass Domscheit-Berg sich eine Sanduhr, das Wikileaks-Logo, auf den Rücken tätowieren ließ - ein Motiv, das, weil der Tätowierer nicht ganz fertig wurde, bis heute höchst symbolisch nur halb vollendet ist.

Die Entwicklung, die Wikileaks seit seinem Ausscheiden genommen hat, macht Domscheit-Berg Sorgen. Der Fluss der Depeschen ist ins Stocken geraten. Zu viel Energie werde für die Verteidigung von Julian Assange aufgewendet. Dass in jüngster Zeit Menschen wie der russischstämmige Holocaust-Leugner Israel Shamir und dessen Sohn, der schwedische Journalist Johannes Wahlström, als Sprecher von Wikileaks auftreten, und offenbar im Namen der Organisation Deals mit russischen und skandinavischen Medien abschließen, irritiert Domscheit-Berg nachhaltig, auch wenn er versichert, dass er Assange stets nur als israelkritisch, nicht als Antisemiten erlebt habe.

Ist Domscheit-Berg ein Datendieb?

Für erklärungsbedürftig hält er auch den Bericht, dass Julian Assange mit einem Anwalt in die Redaktion des Guardian geplatzt sei, als dieser einige Depeschen ohne Absprache veröffentlichen wollte, auf sein "Eigentum" an diesen Informationen gepocht und gesagt habe, seine "finanziellen Interessen" seien berührt.

Der stets leicht verbeulte Julian der frühen Jahre war Domscheit-Berg lieber als der schicke International Man of Mystery des Jahres 2011. Zu weit habe sich Assange von sich selbst und den Grundideen seiner Arbeit entfernt - vor allem vom Ideal der Transparenz, in eigener Sache und im Umgang mit den Lecks.

Auch wenn er die Position von Herfried Münkler nicht teile, der meint, die Diplomaten-Depeschen wären besser unveröffentlicht geblieben, so sagt Domscheit-Berg, habe der doch mit einer Frage recht: Seien denn die Geheimnisse des State Department wirklich "in die Verfügungsgewalt der Allgemeinheit" übergegangen? Oder gibt es nur neue Geheimnishüter? Jetzt nämlich fünf große Medienhäuser und Julian Assange?

Für den und seine Fans ist Daniel Domscheit-Berg nun der Verräter, der Datendieb, ein Mann, der dem einzig wahren Wikileaks-Gründer in den Rücken fällt. Am 26. August 2010, wenige Wochen vor seinem endgültigen Ausschluss, suspendierte Assange ihn in einem Chat ausdrücklich wegen "Illoyalität, Insubordination und Destabilisierung in Krisenzeiten", eine Formulierung aus dem Espionage Act der USA, dem Spionagegesetz, das man später gegen Assange selbst anwenden wollte. In "Inside Wikileaks" hat der Informations-Anarchist trotz allem einen Platz in den Danksagungen Domscheit-Bergs gefunden. Dank nämlich dafür, "dass er eine Idee manifestiert und in mein Leben gebracht hat".

DANIEL DOMSCHEIT-BERG, TINA KLOPP: Inside Wikileaks: Meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt. Econ Verlag, Berlin, 2011. 304 Seiten, 18 Euro.

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