Datenspeicher Internet:Erinnerungen mit Verfallsdatum

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Das Internet hat ein langes Gedächtnis: Was hier gespeichert ist, bleibt meistens für immer erhalten. Ein Harvard-Professor will dem Internet jetzt das Vergessen beibringen.

Helmut Martin-Jung

Es ist ein Bild wie es sie in dieser Art zu Tausenden gibt in den virtuellen Tagebüchern, Freundeseiten und Kontaktbörsen des Internets: Eine Frau in einem rosafarbenen T-Shirt, mit einem billigen Hütchen notdürftig als Pirat verkleidet, trinkt bei einer Party aus einem gelben Plastikbecher mit der Aufschrift Milchschokolade.

(Foto: Foto: iStockPhoto)

Es ist ein Bild, nichtssagend und unscheinbar, das man selbst dann schnell weiterklickt, wenn man die junge Frau kennt, die darauf abgebildet ist. Aber es war dieses Foto auf der Internet-Plattform MySpace.com, das Stacy Snyder um ihren Lebenstraum brachte, den Traum Lehrerin zu werden.

Als man an ihrer Hochschule, der Millersville University im US-Bundesstaat Pennsylvania, über das Bild stolperte, verweigerte man ihr unmittelbar vor Abschluss des Studiums die letzte Bestätigung, die sie zum Lehramt befähigt hätte. Unter dem Bild stand: betrunkener Pirat.

Betrunken im Netz

Stacy Snyder hat den Eintrag sofort von ihrer MySpace-Seite gelöscht, doch gleich an mehreren Stellen tauchte er im Internet wieder auf - Suchmaschinen arbeiten mit einem Zwischenspeicher -, außerdem gibt es da noch gigantische Archive wie die WayBackMachine, die konservieren, was sie nur können.

Fälle wie diesen, der sich vor zwei Wochen zutrug, meint Viktor Mayer-Schönberger, wenn er fordert, dass Computer das Vergessen lernen sollten. Der Österreicher, der in Harvard Öffentliches Recht lehrt, fürchtet, dass der öffentliche Diskurs und die Freiheit der Meinungsäußerung Schaden nehmen.

Dann etwa, wenn man Angst haben müsse, dass Partybilder oder impulsive Statements, die man irgendwann in einem Diskussionsforum gemacht hat, Jahre oder Jahrzehnte später gegen einen verwendet werden.

Zerrspiegel der Wirklichkeit

Gespeichert wird allenthalben. Nicht nur Suchmaschinenbetreiber wie Google archivieren sämtliche Suchanfragen, die jemals getätigt wurden, durchkämmen Mails auf werberelevante Stichwörter, auch Fluggesellschaften beispielsweise hamstern Daten ihrer Kunden - selbst wenn die nach Verbindungen nur gesucht, nicht aber tatsächlich Flüge gebucht haben.

Unmengen an Überwachungskameras zeichnen Daten auf, Kommentare von Bloggern tauchen noch nach Jahren auf, wenn man eine Suchmaschine mit einem Namen füttert - die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Die Menge digital gespeicherter Daten wächst einer Studie zufolge sogar so schnell, dass die Menschheit schon in einigen Jahren Schwierigkeiten haben könnte, überhaupt die dafür nötige Menge an Datenträgern zur Verfügung zu halten.

Leicht vergessen, schwer erinnern

Die fortwährende Anhäufung von Daten über Menschen aber ist nur ein Aspekt des Themas. Ein weiterer greift tiefer, und er ist dem Wissenschaftler noch viel wichtiger: "Der Mensch ist biologisch so koordiniert, dass er die meisten Dinge leicht vergisst, sich aber nur schwer erinnert", sagt Mayer-Schönberger.

"Erinnerung erfordert Anstrengung." Dies aber ändere sich mit dem digitalen Zeitalter. Nicht nur wird unterschiedslos einfach alles gespeichert, die Suchmaschinen, ohne die man im weltweiten Heuhaufen nichts mehr finden würde, von dem man nicht exakt weiß, wo es steckt, diese Suchmaschinen arbeiten mit der Relevanz von Suchbegriffen, nicht chronologisch.

Dem Menschen aber fehle die kognitive Fähigkeit, die zahllosen, ihm angebotenen Suchergebnisse etwa über einen Menschen in der Zeitachse zu sehen, argumentiert Mayer-Schönberger, "wir mussten das in der Evolution nicht lernen."

Und deshalb würden oft falsche Entscheidungen getroffen: "Das Faktum, dass die junge Frau irgendwann möglicherweise betrunken war, ist völlig irrelevant", bezieht sich der Jurist auf den Fall der abgelehnten Lehramtsanwärterin, "die Entscheidungsprozesse müssen rationaler werden". In den allumfassenden Archiven aber werde unterschiedslos einfach alles gespeichert.

Kein Prozess in zehn Jahren

In einem Aufsatz diskutiert er eine Reihe von Vorschlägen, die zu diesem Thema bereits gemacht wurden. Da ist auf der einen Seite die EU, die überaus strenge Gesetze dazu erlassen hat, was etwa Firmen mit gespeicherten persönlichen Daten tun dürfen und was nicht erlaubt ist.

"In der Praxis aber werden diese Rechte kaum wahrgenommen", schreibt Mayer-Schönberger. In Deutschland etwa, wo sogar die Beweislast bei den Firmen liegt, die Daten speichern, habe es zehn Jahre lang keinen einzigen Gerichtsprozess gegeben, bei dem ein Einzelner geklagt habe.

In den USA gibt es eine vergleichbare Gesetzgebung nicht, Daten dürfen bis jetzt jederzeit von einem Online-Händler an den anderen verkauft werden. Bürgerrechtler haben deshalb versucht, aus der Verfasssung indirekt Begründungen für einen strengeren Umgang mit privaten Daten herzuleiten, doch das Oberste Gericht war bisher sehr zurückhaltend, ihren Geltungsbereich auszudehnen.

Vorschlag Verfallsdatum

Den Vorschlag seines Kollegen in Stanford, Lawrence Lessig, die Bürger sollten mit einer Mischung aus Gesetzen und Software in die Lage versetzt werden, für ihre Privatsphäre zu sorgen, hält er für zu umfassend. Lessig hatte vorgeschlagen, die Bürger sollten auf einer Art öffentlichem Datenmarkt selbst bestimmen können, was zu welchem Preis mit ihren privaten Daten geschehen dürfe.

Mayer-Schönberger dagegen setzt tiefer an, bei den bereits bestehenden Datenformaten und Programmen. Nahezu alle Geräte und Programme würden heute schon Daten über die gespeicherten Daten, so genannte Metadaten, aufzeichnen; eine Kamera beispielsweise Datum, Zeit und künftig womöglich auch Ort der Aufnahme.

Die Hersteller müssten dazu verpflichtet werden, zu diesen Daten ein neues dazuzunehmen: Ein Verfallsdatum. Wer wolle, könne das dann immer individuell einstellen, aber die Standardeinstellung sollte von "ewig aufheben" auf "Löschen nach einer gewissen Zeit" gesetzt werden.

Mayer-Schönberger hält dies auch aus einem anderen Grund für wichtig. Als Universitätsdozent ist er konfrontiert mit der Praxis junger Menschen, die auf der Suche nach Informationen "einfach googeln, und wenn sie's dort nicht finden, dann gibt es das nicht".

Das Ergebnis sei ein "Zerrspiegel der Wirklichkeit", und der werde "immer schlimmer, je weniger man steuern kann, welche Informationen über einen gespeichert werden".

© SZ vom 16.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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