Die Frage bringt Alahna zum Kichern. Wie viele Schuhe braucht eine Schlange? "Die hat doch keine Füße", sagt die Fünfjährige. Alahna sitzt vor dem Laptop in ihrer Grundschule im New Yorker Stadtteil Harlem und übt zählen. Zwei Vögel brauchen vier Schuhe, eine hüpfende Lampe bekommt einen Schuh. Alahna klickt mit der Maus auf die richtige Zahl Schuhe. "Ich tatsche immer mit dem Finger auf alles, was ich zählen soll", sagt sie. "Das ist dann einfacher."
Das Mädchen mit den langen Zöpfen geht in eine Schule, die seit zwei Jahren eine neue Art des Mathe-Unterrichts ausprobiert. Die Kinder lernen mit einem Computerprogramm, das fast keine Worte verwendet. Sie sollen sich selbst erschließen, wie sie die Rechenaufgabe lösen. Ein kleiner Pinguin namens Jiji begleitet die Schüler durch das Programm. Wenn Alahna die falsche Menge Schuhe aussucht, steht dem Pinguin ein Strauß ohne Schuhe im Weg - oder ein überschüssiger Schuh. Wenn sie das richtige klickt, wird der Weg frei, Jiji flitzt dann über den Bildschirm.
Die gemeinnützige Organisation Mind Research Institute aus Kalifornien hat die Software hinter Jiji entwickelt und überarbeitet sie täglich. Nur 30 Prozent der Schüler würden jemals richtig Algebra lernen, sagt Matthew Petersen, der Gründer. "Ich will den Matheunterricht reparieren." Seine Idee: moderne Technik kann besser auf jeden Schüler individuell eingehen als der Lehrer. Die Schüler loggen sich mit einem Passwort ein, das Programm weiß dann, was sie in der vergangenen Schulstunde geübt haben, wo sie Schwierigkeiten hatten und was sie wiederholen sollten. Jeder Schüler bekommt seinen eigenen Lernstoff. Ein Lehrer, der dafür sorgen soll, dass die 30 Kinder vor ihm möglichst gut vorankommen, kann das nicht leisten.
Und es macht Spaß. "Die Kinder sind immer ganz aufgeregt, wenn sie eine Aufgabe geschafft haben", sagt Alahnas Lehrer Matthew Greenberg. "Am Ende der Stunde vergleichen sie dann, wer wie viele Probleme gelöst hat." Alahna hat gerade allen Tieren die richtige Zahl Schuhe angezogen. Es macht pling in ihrem Kopfhörer. Der Pinguin hat das Level geschafft, ein kleiner Fahrstuhl hebt ihn auf die nächste Ebene, wo schwierigere Aufgaben auf das Vorschul-Mädchen warten. "Ich habe Jiji lieb", sagt sie. "Ich finde es cool, dass ich hier Computer spielen darf."
Manche Schüler machen nach der Schule freiwillig weiter
Mathe ist für viele Kinder ein Angstfach, in dem sie besonders kämpfen müssen. Den Lernstoff nachzuholen ist besonders schwierig, weil alles aufeinander aufbaut. Wer nicht richtig addieren kann, kann keine Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen. Und die Kinder haben unterschiedliche Mängel. Oft ist es schon schwer für den Lehrer, überhaupt herauszufinden, warum ein Schüler etwas nicht versteht. Dabei helfen die Daten. Wenn Jiji immer an der gleichen Stelle stecken bleibt, weiß der Lehrer, dass er das Problem noch einmal erklären muss. Schulen wie die Grundschule in Harlem fangen schon früh mit dem Computerprogramm an, um zu vermeiden, dass der Matheunterricht an manchen Schülern vorbeirauscht, ohne dass sie etwas verstehen - oder dass sich andere langweilen, weil sie schon mehr können.
Greenberg kann auf seinem Computer sehen, wer sich mit welchen Aufgaben beschäftigt und wie schnell jedes Kind vorankommt. "Jiji sagt mir, dass Tylen heute richtig super arbeitet", sagt er so laut, dass es alle hören und fügt leise hinzu: "Die Kinder glauben, dass es Jiji wirklich gibt und er mir Nachrichten schickt." Viele spielten nach der Schule freiwillig weiter und merkten gar nicht, dass sie Mathe lernen.
Die Klasse ist in zwei Teile geteilt. Die eine Hälfte lernt ganz gewöhnlich mit Papier, Stift und dem Lehrer an der Tafel, die andere Hälfte übt alleine mit Jiji am Computer. Nach 25 Minuten wechseln die Kinder, die andere Gruppe kommt zu Greenberg. So lernen sie auf zwei verschiedenen Wegen die gleichen Fähigkeiten. "Die Kombination ist prima, für jeden Typ ist etwas dabei", sagt Greenberg. "Die stilleren Kinder tun sich im Gruppenunterricht manchmal schwer, für sie ist Jiji am besten. Andere lernen besser durch zuhören und reden und haben Probleme, sich allein zu konzentrieren."
In Studien schnitten die Nutzer der Software auffällig gut ab
Bei den Erstklässlern sind die Aufgaben komplexer als das Schuhe-Zählen von Alahna. Ramyr muss gerade den Weg für Jiji freimachen, in dem er eine Zahl auf einem Zahlenstrahl einordnet. Oben auf dem Himmel über dem Pinguin steht die Zahl 107, darunter eine Gerade voller Zahlen. Ramyr klickt auf den Punkt zwischen 100 und 110. Geschafft, Jiji rennt über den Bildschirm, Ramyr lächelt. "Das ist nicht schwer für mich", sagt er. Der Sechsjährige ist ein schüchterner Junge, aber mit Jiji ist hier kaum einer besser als er. "Mathe ist mein Lieblingsfach, weil ich das für mein Leben gut gebrauchen kann." Seine Aufgaben sind viel schwieriger als die der Kinder an den Laptops neben ihm.
WestEd, eine unabhängige Organisation für Bildungsforschung , hat kürzlich in einer groß angelegten Studie in Kalifornien herausgefunden, dass Kinder in Klassen mit dem Mind-Research-Programm deutlich besser bei den standardisierten Tests abschneiden. Inzwischen lernen rund 800 000 Schüler an 2500 Schulen in den Vereinigten Staaten mit der Software. Es gibt Aufgaben für alle Altersgruppen zwischen dem Vorschuljahr und dem Ende der High School, selbst 18-Jährige lernen noch mit dem Pinguin.
Ramyrs und Alahnas Schule in Harlem ist neu, sie wurde erst vor zwei Jahren gegründet. Die meisten Kinder kommen aus armen Familien, fast alle bekommen vom Staat subventioniertes kostenloses Mittagessen. 95 Prozent sind Afroamerikaner oder haben Wurzeln in Lateinamerika. Gut ein Sechstel der Kinder ist lernbehindert. "Gerade bei unseren Schülern ist es wichtig, dass jeder in dem Tempo lernt, das für ihn richtig ist", sagt Brandi Vardiman, die Schulleiterin. "Und es bereitet die Kids auf das Leben vor, weil sie selbst herausfinden, wie sie die Probleme lösen. Niemand gibt ihnen etwas vor."