Schule:Mathe bei Mama

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Homeschooling war lange ein Spleen religiöser Gruppen. Mittlerweile unterrichten in den USA viele ihre Kinder selbst, um sie besser zu fördern.

Von David Hesse

Porter hat sich für die Äpfel in der Fruchtschale entschieden. Er stellt einen nach dem andern auf die Küchenwaage und trägt den Wägewert von Hand in eine Tabelle ein. Dann wird das mittlere Apfelgewicht im Hause Williams berechnet. Der Junge arbeitet still und konzentriert. Triff eine Auswahl und ermittle den Durchschnitt, lautete die Aufgabe. Zwillingsbruder Miles sucht derweil immer noch nach etwas Messbarem: Er rennt barfuß durchs Wohnzimmer, zieht Schubladen heraus, kramt in Regalen. Dann kommt ihm eine Idee, so originell wie kompliziert: "Kann ich den durchschnittlichen Stromverbrauch meines iPads messen?" Seine Mutter, die Lehrerin, zieht die Brauen hoch. "Und wie würdest du vorgehen?" Miles denkt nach. "Bei der Stadt anrufen und nach den Volts fragen?" Seine Mutter lässt ihn machen. Vor dem Mittagessen werde er das nicht schaffen, sagt sie, aber er könne mal eine Versuchsanordnung entwerfen, schriftlich. Und danach bitte in der Küche das Wasser für die Nudeln aufsetzen.

Miles und Porter sind zehn Jahre alt und noch keinen Tag im Leben zur Schule gegangen. Ihre Mutter unterrichtet sie daheim: "Das amerikanische Schulsystem ist zu eng, zu versessen auf Prüfungsergebnisse", sagt Farrar Williams, eine rundliche, kleine Frau aus dem Süden der USA. Sie habe früh gewusst, dass ihre zwei Buben eine ganzheitlichere Ausbildung bekommen sollten. "Und weil wir kein Geld für eine teure Privatschule haben, machen wir es eben selbst."

Jeden Morgen wird ihr orange gestrichenes Reihenhaus mitten in der Hauptstadt Washington zum Schulhaus. Der Tagesplan der Zwillinge ist auf eine Plastik-Wandtafel im Esszimmer aufgemalt, heute Rechtschreibung, Mathematik und Literatur. Sport und Theater finden außer Haus statt, mehrmals die Woche: Miles ist ein begeisterter Ballett- und Rumbatänzer. Wenn es trotzdem einmal zu wild und unruhig wird im Unterricht, so steht im Keller ein Trampolin zum Dampfablassen.

Schulverweigerung war vor 30 Jahren in fast allen US-Staaten verboten

Mehr als zwei Millionen Kinder werden in den USA mittlerweile daheim unterrichtet. Exakte Zahlen gibt es nicht, das Schulwesen ist Sache der 50 Bundesstaaten, und in elf davon besteht keine Meldepflicht für Homeschooler: Wer seine Kinder in Texas oder New Jersey daheim unterrichten will, muss niemanden darüber informieren. In der eher straff regulierten Hauptstadt Washington wäre das nicht möglich. Farrar Williams musste eine Kopie ihres High-School-Abschlusses einreichen und den Behörden ihren Lehrplan vorstellen; die Eltern sollen nicht ganz ahnungslos zu Werk gehen. Zudem müssen Williams und ihre Söhne am Ende jedes Schuljahrs zwei Portfolios erstellen, die das Gelernte und Geleistete dokumentieren. "Wir machen das ganz gern, weil es uns zeigt, wie sehr wir vorangekommen sind", sagt die Hauslehrerin. Theoretisch dürfte die Schulbehörde Einsicht in die Ordner nehmen, kontrollieren. Das sei aber noch nie vorgekommen.

Eines ist auch ohne Statistik gewiss: Die Zahl der Homeschooler wächst. Vor 30 Jahren war Schulverweigerung noch in fast allen Staaten der USA verboten und ein Randphänomen - ein Anliegen von Anarcho-Hippies und christlichen Fundamentalisten. Heute ist der Hausunterricht im ganzen Land legal und daran, Teil des schulischen Mainstreams zu werden, sagt der Erziehungswissenschaftler Milton Gaither, der ein Buch zum Thema verfasst hat.

Eine neue Generation von Eltern entdeckt das Homeschooling für sich, und dies immer seltener aus religiösen oder weltverweigernden Gründen: Sie behalten ihre Kinder daheim, weil die sich an der öffentlichen Schule langweilen - Hausunterricht als maßgeschneiderte Begabtenförderung in den eigenen vier Wänden. Manche Eltern sind um flexiblere Stundenpläne bemüht, weil der Nachwuchs trainingsintensiven Spitzensport betreibt. Sie reisen viel und wollen ihre Kinder mit dabeihaben. Oder sie nehmen ihre behinderten, verhaltensauffälligen oder schüchternen Kinder von der Schule, um sie vor Bullying und Schikane zu schützen. Selbst eine Erdnussallergie kann ein Grund für Heimunterricht sein. "Die Welt der Homeschooler wird vielfältiger", sagt Gaither.

Wohn- statt Klassenzimmer: Porter wird von seiner Mutter Farrar Williams zuhause unterrichtet. (Foto: Stephen Voss)

Offene Schulverweigerung begann in den USA mit den Hippies Ende der 1960er-Jahre. Pädagogen wie John Holt forderten die "Entschulung" der Gesellschaft und den Ausbruch aus den Lernfabriken. Hippie-Homeschooler gibt es noch, doch sie stellen nur noch eine Minderheit.

Die meisten Amerikaner verbinden Hausunterricht heute mit konservativem Christentum. Anfang der 1980er-Jahre entdeckten evangelikale Gemeinschaften das Homeschooling für sich. Mit Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Lehrplänen kannten sie sich aus. Schulverweigerung bietet streng religiösen Gemeinschaften bis heute die Möglichkeit, ihre Kinder von allzu weltlichen Pausenplatzmoden oder bibelfeindlichen Naturwissenschaften fernzuhalten. Es war eine christlich geprägte Lobbyinggruppe, die Homeschool Legal Defense Association, welche die Entkriminalisierung des Hausunterrichts von 1983 an vorangetrieben hat.

Konservative Christen stellen noch immer den größten Teil der Homeschooler; in einer Erhebung des US-Bildungsministeriums gaben vor drei Jahren 64 Prozent der befragten Schulverweigerer religiöse Beweggründe an. Doch ihr Anteil sinkt, die säkularen Homeschooler kommen. Es sind Leute wie Jennifer Kulynych aus Maryland, Juristin mit Doktortitel, die mit Religiosität und Rebellion nichts am Hut hat: "Nie hätte ich gedacht, dass ich mein Kind einmal zu Hause unterrichten würde", sagt sie im Gespräch. Ihr Bild von Homeschoolern sei stets negativ gewesen: Frömmler, die sich von der Welt absondern, ihren Kindern wirre Weltsichten eintrichtern. Dann aber sei ihre älteste Tochter in der dritten Klasse klar unterfordert gewesen, die Prüfungsergebnisse hätten das gezeigt: "Sie brauchte mehr, als der Unterricht ihr geben konnte." Eine Unterredung mit der Schulleitung verlief ergebnislos; man könne wegen einem Mädchen nicht den Lehrplan anpassen, hieß es. "Eine Privatschule war uns zu teuer - die 40 000 Dollar jährlich würden später für ihre Uni-Ausbildung fehlen", sagt Kulynych.

Also versuchte sie es selbst; seit zwei Jahren erhält die Tochter Hausunterricht. Nun mache die Schule wieder Spaß. "Du kannst deinem Kind daheim heute die bessere Bildung verschaffen." Kulynych nutzt eine Fülle von Ressourcen, um den Bedürfnissen ihrer Schülerin gerecht zu werden: Derzeit absolviert die Kleine einen Onlinekurs in Literatur der Eliteuniversität Stanford, um die Mathematik kümmert sich ein Nachhilfelehrer, und für Naturwissenschaften gibt es regelmäßige Ergänzungskurse des Smithsonian-Museums. Homeschooling ist ein Markt, und Bildungsstätten im ganzen Land haben ihn entdeckt.

Um sicherzustellen, dass kein Pflichtstoff vergessen geht, lässt Kulynych ihre Tochter regelmäßig Tests ablegen. "Wir liegen mehr als gut im Rennen." Überhaupt scheint die schulische Leistung das geringste Problem zu sein beim Hausunterricht. Homeschool-Eltern sind fast immer engagierte Lehrer, und viele Kinder scheinen schulisch vom auf sie zugeschnittenen Unterricht in Kleinstgruppen zu profitieren. Neue Studien legen nahe, dass die Daheimgebliebenen den standardisierten Uni-Eintrittstest SAT durchschnittlich etwas besser packen als die Absolventen der öffentlichen Schulen. Für manche ambitionierten Eltern ein Grund mehr, ihre Kinder von der Volksschule fernzuhalten.

Die Zwillinge Miles und Porter beim Unterricht: Günstig, dass Mutter Farrar jahrelang als Lehrerin gearbeitet hat. (Foto: Stephen Voss)

Eher als mit akademischen Einwänden sehen sich Homeschool-Eltern mit Bedenken konfrontiert, die das Leben jenseits des Unterrichts betreffen: kein Schulweg, keine Klassenkameraden, keine unter der Bank weitergegebenen Liebesbriefe, keine Raufereien auf dem Pausenplatz. Fehlt daheim geschulten Kindern später nicht die soziale Kompetenz? Unsinn, finden die Homeschooler, niemand werde abgeschottet. Auch privat gestalteter Unterricht findet schließlich immer öfter in Gruppen statt, in Lern- und Spielgemeinschaften. Farrar Williams, die Mutter der Zwillinge in Washington, hat schon vor Jahren mit zwei weiteren Familien zusammengespannt und lässt ihre Jungen mehrmals die Woche im Verbund lernen. Hinzu kommen externer Sport- und Musikunterricht sowie die Proben mit einer Theatergruppe. "Auch die Nachbarskinder schauen oft vorbei, um Videogames zu spielen", berichtet der zehnjährige Miles. Alles sei in Ordnung. Vor der Geburt ihrer Söhne hat Williams ein paar Jahre lang als Lehrerin an einer öffentlichen Schule gearbeitet. Sie ist sich sicher: "Meine Jungs verpassen nichts."

Eher bleibe ihnen einiges erspart. Manche Homeschool-Eltern halten das angeblich so wertvolle Sozialleben auf den Schulhausgängen für überbewertet. Der Popularitätsdruck, die Hänseleien und die Härte: Für viele Amerikaner verlaufe die Schulzeit doch eher traumatisch als bereichernd. Wenn einem irgendwo Isolation drohe, erklärt ein Homeschool-Vater aus Pennsylvania im Gespräch, dann doch eher in einer Klasse von 25 fremden, mit Kopfhörern zugestöpselten Kindern als daheim bei Eltern und Geschwistern. Auch christliche Homeschool-Familien bilden vermehrt Schulgemeinschaften. Hinzu kommen afroamerikanische, jüdisch-orthodoxe und sogar indianische Gruppen, die ihr Interesse für Hausunterricht entdeckt haben und nun eigene Verbände gründen. Jeder Weltsicht eine Schule. Problematischer als die soziale Isolation ist eher der Mangel an Verschiedenheit, denn gemischt werden solche Lernzirkel selten.

Kritiker finden, den Staat auszusperren, schaffe Raum für Missbrauch

Wille zur Selbsthilfe - das Erstarken des Hausunterrichts ist wunderbar amerikanisch: Wer das Standardangebot des Staates nicht mag, wird selber tätig. Aus Sicht des Staates sind die steigenden Zahlen ein Misstrauensvotum. Ob christlich oder anderweitig orientiert: Homeschool-Eltern halten ihre Kinder für zu kostbar, um sie dem Normalsystem zu überlassen. Zu flach, zu grob, zu desinteressiert: Der Ruf der Volksschule ist miserabel. Der republikanische Lokalpolitiker Mark Gillen möchte den Rückzug in die eigenen vier Wände dennoch nicht als Angriff verstanden wissen. "Wir sind nicht gegen den Staat und bezahlen auch gern weiter unsere Steuern, sodass die Schule der anderen damit finanziert werden kann", sagt der Vater vier daheim unterrichteter Töchter. Am liebsten wäre Gillen, die Behörden würden ihn und seine Freunde einfach in Ruhe lassen. Eben hat er im Staat Pennsylvania ein Gesetz durchgebracht, das die staatliche Aufsicht über Selbstunterrichter reduziert.

Ähnliche Kampagnen gibt es auch in anderen US-Staaten, oft wirkt die Lobbyinggruppe Homeschool Legal Defense Association mit. Von einer "systematischen Schwächung" der bestehenden Gesetze spricht Rachel Coleman, die einen landesweiten Verein für "Verantwortungsvolle Homeschooler" führt. Sie hält die Entwicklung für fatal: Gerade in einer Zeit, da immer mehr Kinder daheim unterrichtet würden, sei es gefährlich, den Behörden den Weg zu diesen Kindern zu erschweren. Die Aussperrung des Staates schaffe Raum für Missbrauch und Vernachlässigung: "Nicht alle Eltern sind für den Hausunterricht geeignet", findet Coleman.

Homeschooler wundern sich über die rigorose Schulpflicht in Europa

Dass der Hausunterricht Gefahren birgt, bestreitet niemand. In der Hauptstadt Washington nahm vor acht Jahren eine geistig verwirrte Frau ihre vier Kinder von der Schule, um sie daheim zu unterrichten - ein paar Monate später waren alle tot. Die Behörden reagierten mit einer drastischen Verschärfung der Gesetze: Das Schulamt sollt alle Homeschool-Familien neu prüfen und sogar die Unterrichtsräume begutachten. Dennoch können sich amerikanische Homeschooler über die rigorose Schulbesuchspflicht in Europa oft nur wundern. Die Geschichte des schwäbischen Klavierlehrers, dessen Kinder von der Polizei zur Schule geschleppt wurden und der deshalb nach Tennessee floh und Asyl beantragte, ist hier bekannt. "In den USA wäre das undenkbar", sagt Ethan Reedy. Für sein Recht auf Hausunterricht würde er auf die Barrikaden gehen: "Der Staat ist nicht für die Ausbildung unserer Kinder verantwortlich. Wir sind es."

Ohne Schule kann diese Verantwortung sehr schwer wiegen. Alle Homeschooler wissen um Familien, die ins Schleudern geraten sind oder aufhören mussten. Der Aufwand ist enorm und bleibt meistens an der Mutter hängen - nicht nur in den christlichen Familien. In jüngster Zeit wird allerdings auch dieser Aspekt des Homeschoolings vermehrt hinterfragt. "Wie man arbeiten und trotzdem daheim unterrichten kann", heißt ein erfolgreiches Büchlein der Bloggerin Pamela Price. Manche Eltern nutzen die Lernverbände, um einer Teilzeitarbeit nachzugehen. Andere arrangieren sich mit Babysittern: Die Juristin Jennifer Kulynych etwa ist zwei Tage die Woche im Büro, die Nanny lernt daheim mit der Tochter, fährt sie in den Geigenunterricht und in den Schwimmclub. Allerdings bleibe sie auch im Büro oft Lehrerin, sagt Kulynych; über das Netzwerkprogramm One-Net könne sie am Computer mitverfolgen, wie sich ihre Tochter durch den Schultag arbeite: "Ich kann auch schnell mit einer E-Mail reagieren, wenn sie steckenbleibt."

Miles und Porter haben ihre Rechenaufgaben weggelegt; die Sache mit den Volt wird in der nächsten Stunde geklärt. Nun sitzen die Zwillinge auf dem Boden und blättern in ihren Leistungsordnern, lesen dem Besucher stolz aus Aufsätzen vor, zeigen Zeichnungen her. Wenn sie das wollen, sagt ihre Mutter, können die beiden später auf die High School wechseln. "Kein Problem." Bis dahin aber werde sie die Schulzeit im orangefarbenen Reihenhaus genießen. "Dieses Leben im eigenen Rhythmus passt uns allen gerade gut." Miles springt auf. Das Nudelwasser kocht.

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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