Lernstress in den Ferien:"Auch Kinder sollten mal nichts tun"

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Im kühlen Nass paddeln und die Kinderseele baumeln lassen: Auszeiten seien für Kinder wichtig, sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. (Foto: dpa)

Ist es sinnvoll, wenn Schüler in den Ferien versäumten Unterrichtsstoff nacharbeiten? Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hält zu viel Stress in der Freizeit für schädlich. Er kritisiert: In manchen Familien hätten Kinder den Wochenplan eines Managers.

Von Melanie Staudinger

Kinder müssen heute schon am besten im Kindergarten Englisch lernen, in der Vorschule ein Instrument spielen und spätestens in der Grundschule profigleich golfen. Gute Noten in der Schule sind ebenso selbstverständlich wie der Auslandsaufenthalt in der Oberstufe. Und wenn einmal alles nicht nach Plan lief in einem Schuljahr, wird eben in den Ferien weitergelernt. Mit diesen überengagierten Eltern hat sich der Pädagoge Josef Kraus in seinem neuen Buch "Helikopter-Eltern" beschäftigt. Er rät zu mehr Gelassenheit.

SZ: Hätten Sie Ihre Kinder jemals in den Ferien zur Nachhilfe geschickt?

Josef Kraus: Das hätte ich nur gemacht, wenn es unbedingt hätte sein müssen.

Sollten Schüler generell in den Ferien lernen?

In Einzelfällen kann das sinnvoll sein, etwa wenn ein Kind in den letzten Ferientagen eine Nachprüfung absolvieren muss. Auch wer in zwei Fächern gerade so durchgekommen ist oder in einem Fach eine Fünf hatte, dem schadet es nicht, den Stoff zu wiederholen. Das gilt ebenso für Kinder, die wegen einer langen Krankheit viel versäumt haben oder die das Bundesland wechseln. Länger als zwei Wochen sollte das Auffrischungsprogramm aber nicht dauern. Auch Kinder sollten mal nichts tun, Abstand gewinnen und ihren Akku aufladen.

Wie viel Erholung brauchen Kinder?

Ich glaube, dass wir mit der Ferienordnung in Deutschland recht gut fahren. Spätestens nach zwei Monaten haben die Schüler eine oder zwei Wochen frei. Und auch die sechswöchigen Sommerferien sind meiner Ansicht nach gut angelegt. Es gibt europäische Länder, die haben viel längere Auszeiten. Aber da kann es passieren, dass die Eingewöhnung in die Schule schwieriger wird. Außerdem ist es auch für die Eltern durchaus erfreulich, wenn die Kinder nach eineinhalb Monaten wieder aus dem Haus sind.

Haben Kinder heute zu wenig Freizeit?

Ja, das wird immer diskutiert. Wenn wir aber einmal auf die Fakten schauen, merken wir schnell, dass die Anforderungen an die Schüler grundsätzlich heruntergefahren wurden. Die Lehrpläne wurden abgespeckt, die Notengebung ist liberaler, und im achtjährigen Gymnasium wurden die Stunden reduziert. Der Stress, über den gerade an Grundschulen und Gymnasien immer wieder geklagt wird, ist ein gefühlter. Wenn Kinder heute immer weniger unverplante Zeit haben, liegt das entweder an ihrem exzessiven Medienkonsum oder an Teilen der Elternschaft, die Rundumprogramme für ihre Söhne und Töchter organisieren. Das fängt bei Golfstunden an, geht bei Gitarrenunterricht weiter und hört bei Nachhilfe und Frühenglisch auf. In manchen Familien haben die Kinder einen Wochenplan, bei dem ein Manager mit Burn-out-Syndrom zusammenbrechen würde.

In wie vielen Familien trifft das zu?

Meiner Einschätzung nach tun 15 Prozent der Eltern zu wenig und 15 Prozent zu viel. Doch genau diese 30 Prozent sind es, die den Verantwortlichen in Kindergärten und Schulen die meiste Energie rauben.

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Woher kommt die Angst, dass die Kinder etwas verpassen könnten?

Es gibt überwiegend zwei Gründe dafür. Zum einen meinen es viele Eltern einfach zu gut mit ihren Kindern. Das liegt an der familiensoziologischen Entwicklung. Je weniger Kinder wir pro Familie haben, desto mehr bündelt sich der elterliche Ehrgeiz in das eine Kind. Es muss alle Vorstellungen zugleich erfüllen. Vor ein oder zwei Generationen hatten Eltern gar nicht die Kraft und die Energie, von ihren drei oder vier Kindern so viel Perfektionismus zu erwarten.

Und der andere Grund?

Die andere Sache ist, dass wir heute leider eine andauernde Propaganda haben, die uns einzureden versucht, dass wir zu wenige Akademiker haben. So etwas kommt von der OECD ( Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. d. Red.), aus bestimmten Richtungen der Schulpolitik und von Stiftungen wie der Bertelsmann-Stiftung. Sie wollen den Eltern glaubhaft machen, dass ihre Kinder ohne Abitur und mindestens einem Bachelor überhaupt keine Chance auf dem globalisierten Arbeitsmarkt haben. Eltern wiederum glauben dann, dass ihre Kinder verloren sind, wenn sie nicht den formal höchsten Bildungsstand erreichen, und trimmen sie auf Höchstleistung.

Und diese Einschätzung ist falsch?

Schauen Sie nur mal auf ein Land wie Finnland, das zwar bei den Pisa-Tests immer gut abschneidet, aber eine Jugendarbeitslosigkeit von 20 Prozent hat. Unsere Quote liegt bei sechs Prozent. Auch unterhalb der Hochschulschwelle gibt es beste Chancen, gute Jobs zu bekommen. Und der Mehrheit unserer Jugendlichen gelingt das ja auch sehr gut. Das Menschsein beginnt nicht erst beim Abitur, es muss auch ein Leben außerhalb der Schule geben.

Was raten Sie Müttern und Vätern, die sich zu viel engagieren?

Erziehung bedeutet für mich, Führen und Wachsen lassen. Hier sollten Eltern den Mittelweg finden. Zu viel Führung kann implizieren, dass Kinder unmündig und unselbstständig werden. Wer sie zu sehr antiautoritär nur aufwachsen lässt, riskiert, dass die Kinder keine Orientierung haben. Außerdem sollten wir einfach anerkennen, dass es auch Spätzünder gibt. Es muss nicht alles beim ersten Mal funktionieren. Unser Bildungssystem ist durchlässig, selbst wenn viele oft das Gegenteil behaupten. Auch ein 18-Jähriger, der bisher keine allzu erfolgreiche Schulkarriere hinter sich hat, kann auf Umwegen noch studieren.

Josef Kraus, 64 Jahre alt, ist seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er arbeitete als Gymnasiallehrer und Schulpsychologe. Seit 1995 leitet er das Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg bei Landshut.

© SZ vom 20.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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