Bildungsprojekt im Tierheim:"Sie wollen den Katzen ein schönes Erlebnis bereiten"

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Geduldige Zuhörer: Im Tierheim in Berlin lesen Kinder Katzen vor - während des Corona-Lockdowns digital aus der Ferne. (Foto: Tierschutzverein Berlin e.V.)

Wie bringt man Kinder dazu, das Lesen zu üben? Man lädt sie ins Tierheim, wo sie Katzen vorlesen dürfen. Doch in Corona-Zeiten muss man erfinderisch werden, erklärt Annette Rost vom Berliner Tierschutzverein.

Interview von Bernd Kramer

Katzen sind geduldige Zuhörer - darum setzt der Tierschutzverein für Berlin sie nun zur Leseförderung ein. Leseschwache Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf können einmal pro Woche das Tierheim besuchen und ihnen vorlesen. Auf die Idee kam Annette Rost, Marketingverantwortliche des Tierschutzvereins, als sie im vergangenen Jahr von einem ähnlichen Projekt in den USA las. Inzwischen ist die Warteliste des Tierheims lang, vor kurzem hat die Stiftung Bildung und Gesellschaft die Idee mit einem Preis bedacht. Seit der Corona-Krise ist das Projekt in einer Zwangspause - die man aber zum Nutzen der Katzen und Kinder kreativ zu überbrücken versucht.

SZ: Frau Rost, sind die Katzen verstört, weil plötzlich keine Vorleser zu ihnen kommen?

Annette Rost: Verstört sicher nicht, aber dass unser Projekt gerade etwas brachliegt, finden alle sehr schade. Vor allem natürlich die Kinder und auch die Katzen. Aber im Katzenhaus läuft sowieso tagsüber immer das Radio. Menschliche Stimmen sind also weiterhin da. Sie beruhigen die Tiere.

Bevor die Schulen geschlossen wurden, waren jede Woche 22 Kinder, denen das Lesen nicht so leicht fällt, bei Ihnen, um jeweils eine halbe Stunde lang den Katzen vorzulesen. Ist das einfach nur süß oder auch pädagogisch wertvoll?

Wir haben natürlich keine Studie gemacht. Aber wir haben die Rückmeldungen der Eltern, die uns berichten, wie gewissenhaft die Kinder ihre Lesestunde mit den Katzen vorbereiten - und dass ihre Lesekompetenz tatsächlich steigt! Die Kinder nehmen das sehr ernst. Sie setzen sich zu Hause hin und üben, um bei ihrem nächsten Besuch möglichst gut vorzulesen. Sie wollen den Katzen ein schönes Erlebnis bereiten. Oft bringen die Kinder Tierbücher mit, aus denen sie vorlesen. Die Eltern gehen während der Zeit spazieren, unsere ehrenamtlichen Helfer warten vor der Tür. Es sind also keine Erwachsenen im Raum. Nur die Katzen. Und die urteilen nicht, wenn ein Kind sich verhaspelt oder ins Stocken gerät. Das nimmt den Kindern die Scheu vorm Vorlesen.

Sie haben ja nicht nur Katzen im Tierheim. Würden sich nicht auch die - sagen wir mal - Würgeschlangen freuen, wenn sie in den Genuss einer kleinen Vorlesestunde kämen?

Haben wir noch nicht ausprobiert. Aber ich glaube, der Mehrwert für die Würgeschlangen tendiert gegen Null. Und der für die Kinder wohl auch. Wenn ein Kind der Katze vorliest, sitzt es nicht vor einer Box oder einer Scheibe, sondern mit dem Tier in einem Raum. Viele Katze kommen dann nach einer gewissen Zeit auf die Kinder zu, streichen um die Beine. Und wenn das Glück den Kindern besonders hold ist, springen die Katzen ihnen sogar auf den Schoß. Das können Geckos oder Bartagamen nicht bieten.

Aber Katzen sind ja leider ein bisschen launischer als Gekos und Bartagamen. Was, wenn es sie einfach mal komplett kalt lässt, was der junge Besuch ihnen zuliebe da mit so viel Mühe zum Besten gibt?

Das kommt vor. Wir hatten einen kleinen Jungen, der immer am liebsten unserer Larissa vorgelesen hat, eine sehr zutrauliche alte Katzendame, die Kinder über alles liebt. Die ist sofort da. Bei einer Vorlesestunde ist der Junge dann aber zu einer anderen Katze gekommen. Und die war sehr schüchtern und hat sich gar nicht herausgewagt. In solchen Situationen müssen unsere Ehrenamtlichen die Kinder beruhigen und ihnen sagen, dass es nicht an ihnen und ihrer Art zu lesen liegt, wenn die Katze nicht kommt. Katzen sind eigenständig in ihren Entscheidungen.

Deswegen könnten sie sich auch eigenständig für irgendeinen Quatsch entscheiden, statt sich geduldig der Leseförderung des Besuchs anzunehmen.

Auch das. Manche sind sofort zur Stelle und wollen einfach nur geschmust werden, da hat das Kind noch nicht mal das Buch aufgeschlagen. Und manche Kinder sind so jeck aufs Katzenstreicheln, dass wir sie in solchen Situationen sanft daran erinnern müssen: Nein, eine halbe Stunde musst du erst einmal auf deinem Stuhl sitzen bleiben und vorlesen. Unsere Ehrenamtler sind angehalten, mit einem kleinen Hinweis in den Raum zu gehen, wenn sie beobachten würden, dass das Kind das Vorlesen in Gänze einstellt. Das kommt aber kaum vor. Es ist erstaunlich, mit welch großer Disziplin die Kinder das machen.

Annette Rost vom Berliner Tierschutzverein hatte die Idee zum Leseförderprojekt mit Katzen. (Foto: Clara Rechenberg / Tierheim Berlin)

Was passiert, wenn ein Kind eine Geschichte mit einem großen fiesen Hund mitbringt?

Unproblematisch. Auch das lieben die Katzen.

Ein Telefonbuch?

Ginge ebenfalls.

Dann kann man ja eigentlich nur hoffen, dass die Kinder nicht durchschauen, wie absolut egal den Katzen ihre Mühen sind.

Ach, wissen Sie, wenn die Kinder so denken würde, kämen sie gar nicht hierher.

Aber ein bisschen ist es doch wie mit dem Weihnachtsmann: Man muss den falschen Glauben schon aufrecht erhalten, damit die pädagogische Wirkung einsetzen kann.

In den Gesprächen mit den Kinder ist das nie das Thema. Wir versuchen sie eher positiv zu bestärken: Es ist nicht schlimm, sich zu verhaspeln. Fehler dürfen gemacht werden. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht trotzdem toll wäre, wenn das Vorlesen gut und von Mal zu Mal besser klappt.

Was machen die Kinder jetzt, da sie wegen des Corona-Lockdowns nicht mehr zu den Lesekatzen dürfen?

Uns haben schon erste Nachfragen von ihnen erreicht, wie es den Katzen geht. Deswegen haben wir entschieden: Wir gehen mit unserem Projekt digital in die Kinderzimmer. Die Kinder sollen einen Aufsatz schreiben, idealerweise eine Katzen- oder Tiergeschichte. Diesen Aufsatz lesen sie vor und nehmen das auf. Mit der Datei, Video oder Audio, gehen wir ins Katzenhaus und spielen sie ab. Es ist natürlich kein Ersatz für das eigentliche Programm, aber die Kinder verlieren so den Kontakt zum Tierheim nicht, bleiben motiviert weiter zu üben - bis wir irgendwann die Türen wieder öffnen dürfen.

Und das funktioniert, so aus der Ferne?

Es haben uns schon etliche großartige Einsendungen erreicht. Die Kollegen machen dann für die Kinder Beweisfotos vom Einsatz ihrer digitalen Vorlesesituation.

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