Headhunter aus dem Silicon Valley:Akademischer Aderlass

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Hirn-Arbeiter: Ein Doktorand der University of Florida beim Versuch, mit seinen Gedanken ein Fahrzeug zu steuern. Wird die Uni ihn halten können? Fraglich. (Foto: Jason Dearen / AP)

Traumhafte Bedingungen bieten viele Unis in den USA ihren Forschern, deutsche Kollegen können davon nur träumen. Dennoch sind Hochschulen hilflos, wenn ihnen Digitalkonzerne die Leute abspenstig machen.

Von Viola Schenz

erds haben es nicht leicht, sie kämpfen einen steten Kampf gegen Klischees: Als meist männliche Wesen verschreiben sie sich völlig einer Sache, blass und dicklich experimentieren sie in ihrer Welt aus Computern, Technik und Labor vor sich hin, so das Vorurteil. Nerds wurden gerne belächelt, ihre Gesellschaft gar gemieden. Doch das ändert sich. Inzwischen ist ihre Präsenz gesucht, sehr sogar, im Silicon Valley vor allem, für das neue große Ding dort: "Artificial Intelligence" (AI), künstliche Intelligenz. Bei AI geht es darum, menschenähnliche Intelligenz nachzubilden, also einen Computer zu bauen oder so zu programmieren, dass er eigenständig Probleme bearbeitet. Für diese Geistesleistung sind Nerds wie gemacht.

Die Nachfrage nach AI-Talenten an der Westküste der USA explodiert derzeit. Google, Facebook, Uber oder Microsoft durchforsten den nordamerikanischen Kontinent nach Spezialisten. Und fündig werden sie vor allem an den Informatik-Departments angesehener Hochschulen, dort ködern sie Dozenten und den akademischen Nachwuchs. "Ich kann noch nicht mal die höheren Semester halten", klagte etwa Pedro Domingos, Professor und AI-Spezialist an der University of Washington, kürzlich in einem Interview. "Die Firmen versuchen sie anzuheuern, bevor sie überhaupt ihren Abschluss machen." Auch Domingos selbst bekam Angebote. Oft winken unfassbar hohe Gehälter und - wie man hört - ganz wichtig: Aktienoptionen.

Ihre Dollar stecken die Konzerne - außer in neue Konzernzentralen von gigantischer Architektur - bevorzugt in Personal für Forschung und Entwicklung. Amerikas Universitäten, deren hohe Gehälter und niedrige Lehrverpflichtungen jeden deutschen Professor vor Neid rot anlaufen lassen und in der Wissenschaftsszene hierzulande regelmäßig als Traumvorstellung genannt werden, können da nicht mehr mithalten. Landesweit stöhnen schon Dekane und Rektoren wegen eines "Braindrain". Für die Universitäten hat die Migration gravierende Folgen: Sie drohen auszubluten. An den Staatsgrenzen machen die Talentscouts nicht halt: Kanadas Hochschulen tüfteln seit Jahren an einem ehrgeizigen, landesweiten AI-Programm. Expertise ist also entstanden und eben wissenschaftlicher Nachwuchs. "Wir verlieren unsere Top-Talente auf jeder Ebene", warnte Ajay Agrawal, Professor für Management an der Universität Toronto kürzlich im Chicago Daily Herald. "Wir hatten diesen Talentvorteil, und jetzt entgleitet er uns."

Ein Wechsel in die Wirtschaft galt früher als eine Art Verrat. Heute ist das lukrativ - und cool

Die Offensive der Technologiekonzerne spüren auch andere Branchen. 2007 noch verabschiedeten sich 29 Prozent der Absolventen des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in die Banken- und gut neun Prozent in die Softwarebranche. Inzwischen landet fast ein Viertel der MITler bei Softwareunternehmen und nur noch elf Prozent der Absolventen heuern bei Banken an. Nach der Finanzkrise 2008 hat das Image der Wall Street gelitten; gegen den hippen Silicon-Valley-Kosmos aus Badeschlappen, Smoothies und Büro-Hängematten kommen steife Banker anscheinend eh nicht an.

Möglich macht den Braindrain auch ein Gesinnungswandel in den USA. Bis vor wenigen Jahren galt talentierten Köpfen eine Universitätskarriere als Nonplusultra. Ein Wechsel in Wirtschaft und Industrie galt nicht nur als eine Art Verrat an der Sache; sondern auch als wissenschaftlicher Abstieg. Dem ist nicht mehr so. Die IT-Industrie ist lukrativ und cool - und verspricht auch eine schnellere Umsetzung der eigenen Forschungsergebnisse.

Mit dem akademischen Aderlass könnte essenzielles Wissen in Konzernzentralen verschwinden, wird nun gewarnt, Ergebnisse würden nicht mehr öffentlich ausgetauscht und diskutiert werden, ein wesentlicher Faktor von Forschung und Lehre also verloren gehen. Diese Gefahr sehen jedoch auch Konzernbosse; weil auch sie vom Ideenaustausch profitieren, gibt es seit Kurzem in San Francisco zum Beispiel das Projekt Open AI, das mit einem Stiftungsvermögen von einer Milliarde Dollar Forschungsergebnisse offen legen soll, initiiert unter anderem von Elon Musk, dem Gründer des Elektroautoherstellers Tesla.

Imagekosmetik ist notwendig, denn die vielen IT-Cracks, die es zu den hochdotierten Jobs an die Westküste, nach Palo Alto und Cupertino zieht, machen sich dort nicht unbedingt beliebt. Längst sind ihre hohen Gehälter für San Francisco und Hinterland ein Problem, weil mit ihnen anderen Kosten explodieren. Schon allein Wohnen gerät in der einstigen Stadt der Blumenkinder bei absurd hohen Mieten und Immobilienpreisen zum Luxus.

Um die Nerds wetteifern inzwischen auch andere Städte. Sie wollen es San Francisco gleichtun, planen eigene AI-Institute, hoffen damit IT-Absolventen anzulocken. Der Fahrdienst Uber etwa hat 2015 in der einstigen Stahlstadt Pittsburgh ein Advanced Technologies Center eröffnet. John Bares, der Direktor des Uber-Center, appellierte dieser Tage an den Stadtrat, "hart daran zu arbeiten, Pittsburgh für junge Menschen besser zu machen". Pittsburgh und damit eben das neue Zentrum des Konzerns - für das sich an den Universitäten sicher bald Personal findet.

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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