Die Geschichte des Plagiats ist nicht nur eine Geschichte von Lug und Trug, sondern auch eine der Verleumdung. Weil das so ist, tun kühne Plagiatoren noch heute gern so, als seien sie das Opfer einer üblen Kampagne geworden. Vielleicht glaubt man ihnen ja. Es ist gelegentlich nicht leicht zu entwirren, wer ein Schurke ist und wer ein Held (vor allem, wenn alles ein paar Jahre oder gar Jahrhunderte zurückliegt). In der Wissenschaft sind die Dinge aber noch vergleichsweise klar.
In der Dichtkunst wird es kompliziert, weil es die künstlerisch mitunter höchst wertvolle Praxis gibt, Anspielungen und Zitate aus anderen Werken einzubauen oder ganze Stoffe und Topoi aus der Tradition zu übernehmen. Bei den Römern und in der frühen Neuzeit machten sich einige Dichter einen Spaß daraus, aus Versen des Vergil oder Horaz neue Gedichte mit ganz anderem Inhalt zu erschaffen. Diese Centonen ("Flickgedichte"), über die der Bochumer Latinist Reinhold Glei geforscht hat, sind abgeschrieben und dennoch originell. Das Plagiat wurde zum Programm und zu einer eigenen Kunstform.
Aus züchtigen Versen wurden schlüpfrige
Womöglich würde sich der Römer Vergil trotzdem im Grabe umdrehen, könnte er lesen, was andere aus seinen Werken gemacht haben. Vergils Verse waren züchtig, Glei sieht in dem Dichter einen keuschen Mann. Im 16. Jahrhundert hatte dann der Cento-Dichter Lelio Capilupi seine parodistische Freude daran, Vergils Texte so umzubauen, dass eine bildliche, machohaft übertriebene Beschreibung eines markanten männlichen Körperteils daraus wurde: "Den gewaltigen Speer, den er gerade in seiner starken Hand hielt, holte er vorsichtig heraus; nichts Hervorragenderes als ihn gab es in ganz Europa und Asien: ein Monstrum, ein Wunder zu schauen, Schrecken erregend, mit einem hässlichen Kopf, einem massigen Nacken, einer vom Rückgrat zusammengehaltenen Hülle und einem üppigen Bart."
Das schlüpfrige Ding beruhte auf einer Fülle von Vergil-Versen. Dagegen erscheint das Auseinanderfieseln des Guttenbergschen Flickwerks oder das Stochern in Schavans Dissertation als ziemlich dröges Geschäft. So kreativ wie die Cento-Dichter sind Abschreiber selten.
Im Mittelalter kopierte man Texte, ohne sich allzu sehr um Fragen der Autorschaft zu scheren. Die alten Römer hatten noch den Anstand besessen, das Plündern ihrer Vorbilder mit einer ästhetischen Theorie von der Nachahmung (imitatio) zu rechtfertigen. Oft wollten sie wirklich etwas Neues, Vollkommeneres schaffen. In der christlichen Literatur des Mittelalters verliert, da Gott ohnehin über allem stand, die Idee einer individuellen intellektuellen Schöpfung ihre Grundlage.
Solange Texte noch mit der Hand abgeschrieben werden mussten, um sie verbreiten zu können, besaß der Autor wenig Macht über den eigenen Text. Dieser konnte von anderen beliebig entstellt und verstümmelt, erweitert und verbessert werden. Einige wollten sich freilich nicht ganz ohne Gegenwehr in dieses Schicksal ergeben und stellten ihren Werken Fluchformeln voran, die den Fälschern Aussatz oder Schlimmeres bescheren sollten.
Der Buchdruck revolutionierte den Umgang mit Texten. Er erlaubte eine getreue Vervielfältigung, aber auch den unautorisierten Nachdruck und einen bis dahin nicht gekannten kommerziellen Literaturbetrieb. Es war nun viel leichter, Werke zu speichern, miteinander zu vergleichen und Texte zu übernehmen. Das Urheberrecht entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert, davor fühlten sich die zu Selbstbewusstsein gelangten Autoren ihren Plünderern schutzlos ausgeliefert. Manchmal versuchten die Gelehrten, sich vor Textdieben zu schützen, indem sie extra kompliziert und unverständlich formulierten. Vielleicht erklärt diese Tradition ja den Stil mancher heutiger Texte aus Professorenhand.