Inklusion:Unterschiede, die es nicht geben dürfte

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Inken Kanbach studiert Gesundheitsmanagement und leidet an Morbus Crohn. (Foto: Patrick Slesiona/Deutsches Studentenwerk)

Wer mit Handicap studiert, steht auch zehn Jahre nach der UN-Behindertenrechtskonvention noch vor vielen Hindernissen.

Von Christine Prussky

Ausgerechnet zum Semesteranfang war es wieder so weit. Ein neuer Krankheitsschub kostete Inken Kanbach fast zehn Tage. So lange lag die Gesundheitsmanagement-Studentin dieses Mal mit Schmerzen flach, in dem sicheren Wissen, dass ihre Kommilitonen an der Fachhochschule Fulda gerade kräftig lernen. Ein Leben in Intervallen, mit Leerläufen und Rückschlägen, die zur Unzeit kommen und zu Sätzen wie diesen zwingen: "Entschuldigen Sie, dass ich mich erst jetzt bei Ihnen melde, aber ..."

Inken Kanbach leidet an Morbus Crohn. Die chronisch-entzündliche Darmkrankheit tritt in Schüben auf wie Multiple Sklerose, Rheuma oder Epilepsie. Chronisch Kranke studieren selten. Nur 15 Prozent von ihnen schaffen es an die Hochschule, kritisiert der Europäische Studentenverband ESU, und von diesen kommt wiederum nur jeder Vierte bis zum Abschluss. Bei Gesunden ist die Studierquote mit gut 36 Prozent mehr als doppelt so hoch.

Den Unterschied dürfte es nicht geben. Seit 2008 müssen Hochschulen nach der UN-Behindertenrechtskonvention die chancengerechte Teilhabe gewährleisten. Deutschlands Rektoren wissen das. Im Jahr 2009 bekannten sie sich in der Selbstverpflichtung "Hochschule für Alle" ausdrücklich dazu. Die Leitlinien beschreiben auch den "Nachteilsausgleich" für Studierende mit Beeinträchtigung. Bei Klausuren oder Hausarbeiten mehr Zeit geben oder verlängerte Ausleihfristen in Bibliotheken sind Wege zur Chancengleichheit. Sie sind nichts, wofür beeinträchtigte Studierende Danke sagen müssten. Sie sind deren gutes Recht. Eigentlich.

Mehr Zeit für die Klausur? Mit mit der Prüfungsordnung nicht vereinbar, heißt es häufig

Tatsächlich ist der Weg zum Nachteilsausgleich oft ein Hindernislauf. Inken Kanbach hat ihn hinter sich. Sie suchte die richtigen Ansprechpartner, füllte Anträge aus, brachte Atteste bei. Das alles hätte "einige Eigeninitiative" verlangt, sagt sie rückblickend, "aber am Ende hat es sich gelohnt". Die Hochschule Fulda bewilligte Kanbachs Anträge. So gut geht es nicht immer aus. Wie eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen Studentenwerks und des Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zeigt, lehnen Hochschulen im Schnitt mehr als jeden dritten Antrag auf einen Ausgleich (38 Prozent) ab. Die Gründe sind unterschiedlich: "Nicht vereinbar mit der Prüfungsordnung", heißt es in 35 Prozent der Ablehnungen. In 29 Prozent der Fälle wollen Dozenten ihre Lehrroutinen nicht ändern.

Solche Aussagen kommen Heino Windt bekannt vor. Der Jurist leitet seit einigen Jahren das Studien- und Prüfungsbüro an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg und war davor in der Studienberatung tätig. Windt erinnert sich an Fälle, in denen sich Professoren von den Übersetzern in die Gebärdensprache gestört fühlten und ihnen den Zugang zu den Lehrveranstaltungen verwehrten. Recht haben und recht bekommen ist für Studierende mit Beeinträchtigung also auch zehn Jahre nach der UN-Behindertenrechtskonvention nicht immer eins. "Bringen Sie mal einen auf Lebenszeit berufenen Professor dazu, etwas zu tun, was er nicht tun möchte", sagt Heino Windt. Rund 900 Studienanfänger schreiben sich an seiner Fakultät Jahr für Jahr ein. Darunter sind - bricht man den Bundesschnitt auf Hamburg herunter - etwa 100 beeinträchtigte Erstsemester, ein kleines Dorf mit Rechtsansprüchen.

Damit nicht jeder Dorfbewohner seine Ansprüche einzeln und immer wieder aufs Neue durchsetzen muss, sucht die Universität Hamburg eine grundsätzliche Lösung. "Es gibt eine klare Rechtslage und Verfahren", erklärt Windt. "Nachteilsausgleiche sind keine Beziehungsfrage, sondern eine Rechtsfrage." Diese Erkenntnis scheint sich aber auch bei Studierenden noch nicht durchgesetzt zu haben. Von den deutschlandweit rund 300 000 Studierenden mit Beeinträchtigung stellt nicht einmal jeder Dritte einen Antrag auf Nachteilsausgleich. Das Gros verzichtet darauf - aus Unwissenheit, aber auch aus Scham oder Unbehagen, eine Vorzugsbehandlung zu verlangen. Das bringt Nachteile auch für die Hochschulen, die ihre Abbrecherquoten senken wollen und sich über plötzliche Leistungsabfälle von Studierenden wundern.

Gestern noch hellwach im Seminar, und am nächsten Tag für Wochen abgetaucht? "Das kann niemand verstehen, ohne den Hintergrund zu kennen", sagt Inken Kanbach. Sie setzt auf Offenheit und fährt gut damit. "Nur so kann ich die nötige Unterstützung erfahren", sagt sie. Professoren, Prüfungsverwaltung und ihre Kommilitonen in Fulda wissen Bescheid. Das erleichtert Inken Kanbach am Ende auch die Rückkehr nach einen Krankheitsschub. Mit 30 Jahren ist sie jetzt zwar fast sechs Jahre älter als die meisten ihrer Kommilitonen, ihren Bachelor aber hat sie abgeschlossen. Der Master steht an. Und irgendwann die Promotion.

© SZ vom 12.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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