Wunsiedel:Gemischte Gefühle

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Kein Tag ungetrübter Freude: Der schärfere Volksverhetzungsparagraph ist rechtens - dennoch fürchtet die Stadt weitere Nazi-Aufmärsche .

Olaf Przybilla, Nürnberg

Unter normalen Umständen wäre der Dienstag ein Tag ungetrübter Freude gewesen in Wunsiedel. Denn gestern hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der verschärfte Volksverhetzungsparagraph des Strafgesetzbuches mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Erst vor wenigen Tagen sind 850 Neonazis durch Wunsiedel gezogen. (Foto: Foto: ddp)

Im April 2005 war der Passus geändert worden, und seither war die Kleinstadt in Oberfranken verschont geblieben von den sogenannten Gedenkmärschen zu Ehren des in Wunsiedel begrabenen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß. Wie gesagt: Ein Anlass zur Freude wäre das Grundsatzurteil eigentlich gewesen, hätte man nicht erst vier Tage zuvor erleben müssen, wie abermals 850 Neonazis durch die Kleinstadt gezogen sind - und zwar trotz des verschärften Volksverhetzungsparagraphen.

Wunsiedels Bürgermeister Karl-Willi Beck ist der Mann, der wohl wie kein anderer für die Veränderung des Paragraphen130 gekämpft hatte. Im Jahr 2004 war es der CSU-Mann gewesen, der mit einer spontanen Sitzblockade in Wunsiedel die Stadt bundesweit bekannt gemacht hatte.

Wegen der Blockade hatte sich Beck sogar vor dem damaligen Innenminister Günther Beckstein rechtfertigen müssen. Andererseits brachte ihm der Widerstand auch eine Einladung des Deutschen Bundestages ein. Dem Parlament konnte der Bürgermeister erklären, wie das ist für eine Stadt mit im Kern 4000 Einwohnern, wenn 4500 Rechtsextremisten zu Ehren eines Nazis einfallen.

Becks Plädoyer zeigte Wirkung: Mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren wird seither bestraft, wer "den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt". Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verstößt diese Vorschrift nicht gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit.

"Natürlich freuen wir uns darüber", sagt Beck, einerseits. Andererseits sind die Erinnerungen an den Samstag noch frisch. Da waren wieder 850 Rechtsextremisten durch die Stadt marschiert, und zwar ausgerechnet zum Gedenken an jenen Mann, der in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte: Jürgen Rieger.

Der kürzlich verstorbene Anwalt und NPD-Vize hatte Wunsiedel zuvor jahrelang mit Märschen überzogen - hatte aber durch die Änderung des Volksverhetzungsparagraphen in den vergangenen Jahren nur Niederlagen eingesteckt.

Kann es sein, dass nächstes Jahr abermals Neonazis durch Wunsiedel marschieren, in Erinnerung an den Rassisten Rieger? Wunsiedels Landrat Karl Döhler (CSU) hält das "leider nicht für ausgeschlossen". Man werde sich juristisch wappnen dagegen. Für Bürgermeister Beck sind die Chancen auf ein Verbot von Rieger-Gedenkmärschen mit dem Urteil des Verfassungsgerichtes aber gestiegen. Denn den Marsch vom Samstag hatte ein NPD-Anwalt dadurch begründet, dass Rieger in Wunsiedel gegen die Veränderung des Paragraphen 130 "gekämpft" haben soll. Diese aber ist nun für verfassungskonform erklärt worden.

© SZ vom 18.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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