Wirtschaft:Herr Wobbe und der Stau

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Eine historische Statistik zeigt, wie die Exporte und die Autoindustrie in Bayern stetig wuchsen - und mit ihnen die Verkehrsprobleme

Von Maximilian Gerl

Der Herr Statistiker scheint öfter mal im Stau zu stehen. So oft, dass er statt Zahlen lieber den Augenschein nutzt. "Wir alle sind Zeugen einer ausgesprochenen Fahrzeugschwemme", notiert er. Garagen verkämen zur Mangelware, während sich die Straßen zu Parkplätzen wandelten. Selbst das flache Land bleibe von der Verdichtung des vierrädrigen Verkehrs nicht verschont. Die Konsequenz ist für den Herrn Statistiker offensichtlich: "Die großen Zufahrtswege zu den Städten und die Ausflugsrouten in die Sommer- und Winterkurorte sprechen eine beredte Sprache."

Was nach einer aktuellen Verkehrsmeldung klingt, stammt aus dem Jahr 1960. Zu diesem Zeitpunkt soll K. Wobbe - ein Vorname ist nicht überliefert - für das Statistische Landesamt untersuchen, wie sich die Wirtschaft des noch jungen Freistaats entwickelt. Doch weil die Automobilindustrie einen ungeahnten Boom erlebt, bleibt es nicht bei ein paar Zahlen. Wobbe schweift ab. Genau das macht, fast 60 Jahre später, seine Ausführungen so interessant. Sie werfen ein Schlaglicht darauf, wie sich Branchen verändern und wie lange sich doch manches hält. Wie Probleme in anderer Form wiederkehren, wenn sie unterschätzt werden. Was Wobbe damals beobachtet, prägt Bayern bis heute.

Ausgegraben haben Wobbes Wahrheiten seine heutigen Kollegen im Landesamt. In ihren Monatsheften publizieren sie regelmäßig historische Statistiken. Anders als in modernen Arbeiten kann sich Wobbe dabei seine Meinung nicht verkneifen. Dabei beginnt alles recht harmlos: mit einer Auflistung der Ausfuhren der Jahre 1950 bis 1959. Was Wobbe zusammenträgt, wird später als Wirtschaftswunder in den Sprachschatz einziehen. 1950 exportieren Bayerns Betriebe Waren im Wert von 767 Millionen D-Mark in alle Welt. Die Summen steigen schnell, teils verdoppeln sie sich von Jahr zu Jahr. 1959 schlagen 4165 Millionen D-Mark zu Buche. Treiber sind vor allem drei Produktgruppen. Die Ausfuhren der "elektronischen Erzeugnisse" steigen in diesem Zeitraum um mehr als das Zehnfache. Die "Maschinen aller Art" wachsen ums Siebenfache, die "Kraftfahrzeuge" ums Neuneinhalbfache. Letztere kommen zwar absolut lediglich auf 309 Millionen D-Mark, Wobbe stellt ihnen dennoch "das beste Zeugnis" aus.

Platz für Statussymbole: In den Fünfzigerjahren waren Autos Ausdruck davon, dass man es geschafft hatte. Und so zeigte sich der Münchner Karlsplatz, Stachus genannt, um 1959/60 als angeblich verkehrsreichster Platz Europas. (Foto: SZ Photo)

Der Statistiker sieht sich zu weiteren Beobachtungen genötigt. Die erste: die ebenfalls wachsende Verkehrsproblematik mit Staus und Parkplatzsorgen. Belege liefert Wobbe nicht, begründet sind seine Worte trotzdem. In den 1950er-Jahren war der Pkw-Bestand in Bayern stark gestiegen; ein Auto galt als Mobilitätsgarant und Statussymbol. Darauf war die Infrastruktur nicht wirklich vorbereitet. Der Münchner Stachus avancierte Ende der 1950er-Jahre gar zum angeblich verkehrsreichsten Platz Europas. Blechlawinen drängten sich kreuz und quer. Historische Aufnahmen des Karlsplatzes erinnern an Wimmelbilder. Heute geht es vergleichsweise gesittet auf Bayerns Straßen zu - wer jedoch zur Rush Hour unterwegs ist, könnte von einem Déjà-vu ereilt werden.

Allem Wachstum zum Trotz konstatiert Wobbe beim bayerischen Fahrzeugbau Nachholbedarf. Sein Anteil an der westdeutschen Autoproduktion falle mit 13 Prozent gering aus - gemessen am Gesamtindustrieanteil von 20 Prozent sogar unterproportional. Auch die Zahl der Beschäftigten sei mit zuletzt 49 184 Personen überschaubar. Der Grund: Die Käufer tendierten zu größeren Fahrzeugen, während die "Domäne der bayerischen Pkw-Produktion" im Kleinwagen liege - ausgenommen einen einzigen, nicht näher benannten Hersteller. Wobbe dürfte BMW gemeint haben. Heißt übersetzt: Es wäre mehr drin in und für Bayern.

Wobbes Analyse steht am Punkt einer Zeitenwende, von der Wobbe natürlich wenig ahnt. Erst in den 1960er-Jahren nahm der Aufstieg der bayerischen Autoindustrie zur heutigen Leitbranche richtig Fahrt auf. Vorbestimmt war das nur bedingt, Glück gehörte schon auch dazu. Viele Produzenten von einst sind wieder vom Markt verschwunden. So stand BMW 1959 kurz vor der Pleite. Nur das Geld eines Großindustriellen und der sich wandelnde Geschmack der Kundschaft bewahrten die Firma vor einer Übernahme durch Daimler. Die Auto Union - später in Audi umbenannt - war sogar nur deshalb aus der DDR nach Ingolstadt übergesiedelt, weil man dort bereits ein Ersatzteillager unterhielt. Wobbe bescheinigt denn auch der Motorradindustrie mehr Bedeutung in Bayern als dem Pkw-Bau. Bei den Zweirädern erfreue sich vor allem ein "neuartiges Fahrzeug" bei den Käufern einer gewissen Beliebtheit: das Moped. 190 000 Stück setzen Bayerns Hersteller allein 1959 ab.

Wobbe macht noch einen anderen Aufstieg aus: den der USA zum wichtigsten Handelspartner. 1950 führen die Niederlande die Exportstatistik an; dort landen bayerische Waren im Wert von 92 Millionen D-Mark. 1959 liegen die Vereinigten Staaten mit 444 Millionen D-Mark vorn. Mit Abstand folgen Österreich, Italien und Großbritannien. Von China ist noch nichts zu sehen. Ansonsten haben sich seitdem in der Statistik zwar die Werte und die Währung geändert, vergleichsweise wenig indes an der Reihenfolge der Länder.

Heute steht der Automobilbau in Bayern vor neuen Herausforderungen. Der Export schwächelt, plötzlich sind Elektroautos gefragt. Die mögliche Abkehr vom Motorenbau bedroht Standorte und Arbeitsplätze. Wobbe kann davon nichts wissen, als er zum Ende einen Ausblick wagt: "Kaum ein industrielles Erzeugnis ist so stark den Einflüssen der technischen Entwicklung, der modischen Formgebung, der Anpassung an die Kaufkraft des Publikums und der allgemeinen Konkurrenz unterworfen wie das Kraftfahrzeug." Auch "ungelöste Probleme" wie der Fernstraßenausbau oder "die Auflockerung großer Städte" dürften ein gewichtiges Wort mitreden. Dennoch beurteilt Wobbe die Aussichten der Branche vorsichtig optimistisch. Eine Hoffnung, die wieder aktuell klingt - wie so manches Verkehrsproblem.

© SZ vom 27.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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