In jedem deutschen Haus steht oder liegt irgendein Hubert Jocham herum. Garantiert. Entweder im Badezimmer (Dentagard, Balea, Crisan) oder in der Lese-Ecke (Geo Saison, Men's Health). Im Arbeitszimmer (Herlitz) oder im Partykeller (Franziskaner, Freixenet). Und ganz bestimmt in der Küche (Almette, Alete, Weihenstephan, Gerolsteiner). Für all diese Produkte hat Jocham Schriftzüge entwickelt, zumindest überarbeitet. Der Schriftsetzer und Grafik-Designer ist freiberuflicher Gestalter von Schriften. Er gestaltet Buchstaben, die einer Marke eine unverwechselbare Identität verleihen sollen.
Hubert Jocham ist verantwortlich für das Erscheinungsbild unzähliger international bekannter Unternehmen und Produkte. Seine Striche und Schwünge entstehen aber nicht in einer Designer-Metropole wie New York, London oder Paris, sondern in Lautrach, Landkreis Unterallgäu - also im "Illerwinkel" irgendwo an der bayerisch/baden-württembergischen Grenze. Das ist sehr weit weg von den Treffpunkten der Szene, aber das schmälert Jochams Erfolg nicht. "Ich verbringe meine Zeit lieber mit Gestalten als mit Drüberreden."
Joacham nennt sich selbst einen "Paradiesvogel". Wer ihn besucht, findet wenige Argumente zum Widersprechen. Er trägt knallig orange Sportschuhe und eine schwarze Trainingsjacke. Bart und Frisur sind auf Drei-Tage-Länge getrimmt. Er bietet noch im Vorgarten das Du an. Den Kaffee serviert er in einem eigenwilligen Architektenhaus mit Wellblechfassade und Wänden und Boden aus Sichtbeton. Die Fenster sind raumhoch, die Einrichtung ist superspartanisch. Auf der einen Seite sieht man die Ach vorbeifließen, auf der anderen sein Büro stehen. Es ist eine Art Holzkiste im Garten. Auch in dieser dominiert der Minimalismus. Die einzige Spielerei ist ein dicker, fetter "Office"-Schriftzug am Schiebe-Fenster. "Meine Matrona", brummt er.
Es ist eine seiner preisgekrönten Schrift-Kreationen. Auf dem langen Arbeitstisch liegen Pfeife und Tabak bereit, aber sie werden nicht angerührt. Stattdessen vertieft sich Jocham in seinen Zeichenblock großen Computer-Bildschirm, auf dem er mit einem Spezialstift auch malen kann. Er zeigt das Logo eines Lebensmittel-Herstellers und erklärt, wie er es überarbeitet hat. "Der Aufbau war einfach nicht harmonisch und teilweise sogar falsch", sagt er. Die Linienführung habe nicht gestimmt.
Was Hubert Jocham sofort ins Auge sticht, nehmen Laien - wenn überhaupt - nur unterbewusst wahr. Alle drei bis fünf Jahre werden Marken-Schriftzüge an die Zeit angepasst, berichtet er. "Mir ist das recht, da geht die Arbeit nie aus." Allerdings gleicht das Entwerfen oder Überarbeiten eines Schriftzuges mitunter einem Geheimkommando. Viele Auftraggeber erwarten maximale Diskretion. Derzeit überarbeitet er das Markenzeichen eines weithin bekannten Mineralwassers, dessen Namen er aber nicht nennen kann. Auch seinen größten Erfolg muss er geheim halten: Die Verpackungen eines berühmten Schokoriegels zieren Jochams Zauber-Buchstaben. "Dieser Schriftzug ist meine weitest verbreitete Arbeit", sagt der 50-Jährige schmunzelnd. Den Namen verrät er aber nicht. Es gibt andere Marken, deren Logo er mitgestaltet hat und deren Namen er auch nennen kann: Quelle und Hertie, das British Council oder das Deutsche Kammerorchester Berlin und viele mehr.
Neben den Marken-Schriftzügen hat sich Jocham ein anderes Standbein erarbeitet. Er entwickelt ganze Schriftarten, also komplette Buchstaben-Sätze vom großen A bis zum kleinen Z, mit allen Satz- und Sonderzeichen. Jocham hat sogenannte "Hausschriften" für Firmen wie Agfa, Bally oder auch den Hamburger SV entworfen. Diese Auftragsarbeiten sind mittlerweile seine Haupteinnahme-Quelle. "Textschriften sind die Königsklasse des Schriftdesigns", sagt er. "Das mache ich am leidenschaftlichsten."
Mit leuchtenden Augen referiert er über kursive und aufrechte Schriften, von Weißräumen und Serifen und Ligaturen. Jede Schrift muss nicht nur schön aussehen, sondern auch gut lesbar sein. Und im Idealfall noch eine Botschaft aussenden: Dynamik oder Gemütlichkeit, Verspieltheit oder Klarheit - je nach Auftraggeber. Bei aller Begeisterung sagt Jocham aber auch: "Es ist ein Knochenjob." Jedes einzelne Schriftzeichen muss eigens gestaltet werden, plus all die Sonderzeichen. Und das jeweils in mager, kursiv und fett.
Zwei oder drei solcher Schriften gestaltet Hubert Jocham pro Jahr ohne speziellen Auftrag. Er veröffentlicht sie dann in seiner "Bibliothek". Das ist eine Art Schriften-Shop, dort kaufen Unternehmen oder Werbeagenturen oder Zeitschriften-Redakteure eine Lizenz an Jochams Buchstaben. Sie können diese Schrift dann für ihre Veröffentlichungen und Briefe nutzen. "Ich verstehe mich immer noch als Handwerker", sagt Jocham, "aber man muss auch Künstler sein." Entsprechend kreativ klingen denn auch die Namen seiner Schriftarten: Sie heißen Mommie oder Granat oder Narziss. Letztere ist eine von vier Typografien, die der Type Directors Club aus New York mit einem Preis für Schrift-Design ausgezeichnet hat. "Narziss ist zwar nicht meine beste Schrift", sagt Jocham, "aber meine erfolgreichste." Wie viel sie ihm eingebracht hat? Er zeigt in Richtung Wellblechfassade. "Einen guten Teil vom Haus." Bis heute wird die verschnörkelte Narziss in Mode- und Lifestyle-Magazinen immer wieder verwendet. Jedes Mal klingelt in Lautrach die Kasse.
Jochams dritte Nische sind Schriftarten für Lebensmittel-Verpackungen. Denn auch Discounterketten wie Aldi und Lidl beschriften ihre No-Name-Kekse inzwischen nicht mehr mit Allerwelts-Buchstaben, sondern mit wohlgeformten Spezialschriften. Immer wieder bedienen sie sich dabei im Fundus der Lautracher Holzkiste. Jochams erfolgreichste Kauf- und Appetit-Anreger heißen Schoko, Flavour oder Sweet delight. Wenn er von seinen Schöpfungen erzählt, dann klingt das so, als wären es seine Kinder. Er spricht von "selbstbewussten" oder "flotten" Schriften, die "lecker" oder "cremig" aussehen. Sie wirken wie liebevoll mit der Hand hingepinselt. Und suggerieren, dass auch das Produkt handgemacht ist. Am liebsten natürlich von Omi.
Hubert Jocham sitzt nicht das ganze Jahr in seinen kleinen Allgäuer Holzwürfel. Regelmäßig reist er nach New York, London oder andere Städte, in denen seine Kunden sitzen. Für das Männer-Magazin GQ oder die Vogue-Ausgaben aus Frankreich, Russland, der Ukraine und der Türkei peppt er einzelne Seiten auf. Der Titel-Schriftzug der Zeitschrift Men's Health stammt ebenfalls aus seiner Feder respektive aus seinem Computer.
Den Schriftzug der Süddeutschen Zeitung findet Hubert Jocham "sehr schön"; "Vor allem das S mit dem größeren Bogen oben, wunderbar." Also bloß nicht überarbeiten und die Finger davon lassen? Er überlegt kurz. "Ach, wenn ich dürfte, würde ich mich schon heranwagen", sagt er, "das ist wie bei einer schönen Frau."