Tagebuch-Fund:Tante Annas Geheimnis

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Andreas Assbichler hat einen Koffer voller Geschichten vom Dachboden geholt. (Foto: Johannes Simon)

Ach, wenn die liebe Verwandte doch ordentlich geschrieben hätte. Doch sie verfasste ihre Tagebücher 76 Jahre lang in einer seltenen Steno-Schrift: 25.000 Seiten mit traurigen, lustigen und blutrünstigen Geschichten. Ihr Neffe Andreas Assbichler hütet das Erbe - ohne es zu verstehen.

Von Heiner Effern, Riedering

Andreas Assbichler schwingt seine Hände hin und her, als ob er die Blumen draußen mit der Sense mähen wollte. Ein Streich links, einer rechts. Doch es fallen nicht Hahnenfuß oder Schafgarbe, sondern Mitglieder einer marodierenden Bande, die in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg einen Verwandten Assbichlers überfielen. Der wehrte sich bis zum Ende mit einem dieser mächtigen Messer, die in der Region zum Stechen des Torfs verwendet wurden.

"Sechs oder sieben sind draufgegangen, bis sie ihn erstochen haben", erzählt Assbichler. Die getöteten Angreifer mussten verschwinden, die Familie befürchtete eine Strafe durch die Amerikaner. "Die haben die Leichen einfach in die Odelgrube geschmissen."

Eine blutrünstige Begebenheit, die sich oberhalb des Simssees abgespielt hat - und die irgendwo in alten Tagebüchern aufgeschrieben ist. Wenn man die Stelle denn finden würde. Andreas Assbichler, 58, erzählt die Geschichte in der Stube seines mehr als 500 Jahre alten Bauernhofs in Obermoosen, einem Weiler nahe Riedering. Seine Stimme bleibt auch bei Mord und Totschlag leise, sein Sprechtempo bedächtig.

Assbichler ist ein dezenter Erzähler, aber einer, der Geschichten liebt. Deshalb wurmt es ihn ganz besonders, dass er fast ein ganzes Jahrhundert voller Anekdoten auf dem Speicher seines Hofes liegen hat - ohne sie lesen zu können. Assbichlers Tante Anna hat von 1926 bis 2002 jeden Tag das Wichtigste aus ihrem Leben aufgeschrieben. Assbichler schätzt, dass ihre Tagebücher ungefähr 25 000 Seiten umfassen.

Stenografie aus Furcht vor den Nationalsozialisten

Doch ihre gesamten Erinnerungen sind in Stenografie verfasst, vieles davon sogar mit besonderen Kürzeln, die kaum zu entziffern sind. "Die habe ich jetzt alle da liegen. Da steht mein Leben drin und das von meinen Eltern und Geschwistern. Und ich kann nichts davon lesen."

Die Tante Anna, 's Nandl, wie sie genannt wurde, hat ihrem Lieblingsneffen Andreas immer wieder aus ihren Tagebüchern vorgelesen. Er weiß also, dass noch viel mehr drinsteckt als seine Familiengeschichte. Anekdoten, die das Leben auf dem Land über fast ein Jahrhundert dokumentieren. Tratsch, Not, Politisches, viel auch über die NS-Zeit in der Region Rosenheim.

Eines von Tante Annas Tagebüchern, für Normalmenschen ebenso unentzifferbar wie ägyptische Hieroglyphen. (Foto: Johannes Simon)

Die Furcht vor den Nationalsozialisten habe seine Tante bewogen, diese besonders ausgefallene Kurzschrift zu verwenden, sagt Assbichler, denn die Haltung ihrer katholischen Familie hätte Hitlers Schergen sicher nicht gefallen. Ihr Vater sei von den Nazis aus dem Rosenheimer Stadtrat gejagt worden.

Assbichler kennt also nur Bruchstücke der Tagebücher. Etwa wie eine Verwandte in jungen Jahren nach München gefahren ist - und nie wieder auftauchte. Trotz aller Bemühungen der "Kriminaler". Festgehalten sind auch Geschichten, die sich auf dem Hof ereignet haben, zum Beispiel von einer Ross-Magd, die im 19. Jahrhundert den Herren Veterinären so einheizte, dass die einen Aufstand veranstalteten. Denn die junge Frau heilte im Gegensatz zu ihnen die kranken Pferde tatsächlich.

Das sprach sich herum, Bauern von weit her kamen auf den Gschwingerhof, bis die Tierärzte ein Arbeitsverbot für die Naturheilkundlerin durchsetzten. Diese nahm fortan nur noch heimlich die Goldstücke der Bauern an. Es dürften nicht wenige gewesen sein. Assbichler holt ein Öl-Portrait von ihr in die Stube, das sie hat malen lassen. Die Bäuerin dürfte nicht so vornehm gewesen sein wie ihre Magd, die ernst und streng aus dem Rahmen herausschaut.

Wo diese Geschichten im literarischen Werk seiner Tante niedergeschrieben sind? Assbichler weiß es nicht. Er hat einen Lederkoffer voller Tagebücher vom Speicher heruntergetragen, oben liegen noch viel mehr Hefte. Seine Tante war nicht wählerisch, vom Notizbuch bis zum rot-grün gemusterten Poesie-Album hat sie alle möglichen Bücher genutzt, um ihr Leben und das der Menschen in Riedering zu dokumentieren. Seite für Seite stehen da für Steno-Laien nur unverständliche Haken und Linien.

So muss es dem Franzosen Jean-François Champollion gegangen sein, als er zum ersten Mal ägyptische Hieroglyphen zu entziffern versuchte. Er benötigte Jahre, bis er 1822 ein Alphabet darin erkannte.

Tante Anna blieb ledig

Assbichler, der in der Verwaltung des Gefängnisses in Bernau arbeitet, hat sich für den Ruhestand fest vorgenommen, sich ins Steno zu vertiefen. Oder jemanden zu suchen, der ihm als Übersetzer hilft. Wenigstens die spannendsten Zeiten aus der Vergangenheit will er als Rentner wieder aufleben lassen, denn er weiß: "Alle Bücher zu lesen, würde jahrelang dauern."

Seine Tante hätte es nicht gestört, wenn er die Tagebücher nie mehr angesehen hätte, sagt Assbichler. Vielleicht auch, weil ihr darin festgehaltenes Leben nicht einfach war. Der Freund starb noch vor der geplanten Hochzeit. Sie blieb ledig, wie auch ihr Lieblingsneffe Andreas, der sich um ihr Erbe kümmert.

Als Erzieherin und später als Bankangestellte schlug sie sich durch. "Man darf die alten Zeiten nicht verklären, so schön waren die nicht", sagt ihr Neffe. Die Tante Anna habe wenigstens Anerkennung in der Arbeit gefunden, "sie konnte 2000 Kontonummern auswendig".

In Riedering habe sie bis ins hohe Alter fast jeder gekannt, schließlich habe sie als Frisur "ein markantes Taubennest" auf dem Kopf getragen. Bis die Augen nicht mehr mitmachten, betätigte sie sich als penible Chronistin des Alltags auf dem Land. 76 Jahre lang, jeden Tag.

© SZ vom 13.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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