SZ-Serie: Vogelwuid - Ein Geier zieht aus:Lernen wie im Flug

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SZ-Bartgeier Wally kreist inzwischen bis zu einer Dreiviertelstunde in der Luft. Nun weiß sie auch, wie sie Knochen mit ihren Zehen packen muss. Ihr Aktionsradius wird von Tag zu Tag weiter

Von Christian Sebald, Ramsau

Was für eine Lernkurve. Als Wally vor gut vier Wochen im Nationalpark Berchtesgaden zu ihrem Jungfernflug abgehoben hat, ist sie gerade mal zehn Sekunden in der Luft geblieben. Dann ist das Bartgeier-Weibchen auf einem Felsen hundert Meter entfernt von der Auswilderungsnische am Knittelhorn gelandet. Inzwischen ist Wally bis zu einer Dreiviertelstunde lang am Himmel. Sie lässt sich von der Thermik viele Höhenmeter über den Gipfel des Knittelhorns tragen. Dann segelt sie hinüber zur Reiteralm. Oder sie zieht Runden vor den Felswänden an der Halsgrube. Wally hat auch gelernt, die Mittagswinde auszunutzen, damit sie nicht so oft mit den Flügeln schlagen muss. "Es sieht richtig elegant aus, wenn Wally in der Luft ist", sagt Toni Wegscheider, Biologe und Leiter des Bartgeier-Projekts im Nationalpark. Mit fast 2,90 Meter Flügelspannweite überragt Wally weit die Steinadler und anderen Greifvögel in der Region.

Aber nicht nur beim Fliegen macht Wally Riesenfortschritte. Dieser Tage hat sie kapiert, wie sie einen Knochen mit ihren Zehen packen muss, damit sie ihn durch die Luft transportieren kann. "Die Zehen der Bartgeier sind zygodaktyl angeordnet", erklärt Wegscheider. Das heißt: Zwei Zehen zeigen nach hinten, die beiden anderen nach vorne. Dank dieser Anordnung können Bartgeier Gegenstände packen, festhalten und mit ihnen auf- und davonfliegen. "Bei Wally kam die Erkenntnis, dass sie das kann, wie aus heiterem Himmel", berichtet Wegscheider. "Sie hat sich einen Gamslauf geschnappt, den wir zuvor ausgelegt hatten, und ist damit hundert Meter weit einen Steilhang hinauf geflogen." Oben hat sie ihn auf einem Felsen deponiert und die Tage danach kleingerupft. Inzwischen hat Wally die Aktion mit einem weiteren Gamslauf wiederholt.

Wally kreist am Himmel über dem Knittelhorn. (Foto: Markus Leitner)

Für Bartgeier ist es sehr wichtig, dass sie Knochen und andere Gegenstände packen, festhalten und durch die Luft transportieren können. Zum einen können sie so Kadaverteile vor Steinadlern und anderen Beutekonkurrenten in Sicherheit bringen und später in aller Ruhe vertilgen. Zum anderen schaffen sie so Material herbei für ihre oft gewaltigen Horste. Bartgeier nutzen ihre Horste immer wieder, so dass diese im Lauf der Zeit bis zu drei Meter breit und zwei Meter hoch werden können. In der Hauptsache bestehen sie aus Astwerk, die Nestmulde wird mit Federn und Tierhaaren ausgepolstert. "Bartgeier nehmen dafür auch immer wieder große Fellstücke von Kadavern her", berichtet Wegscheider. Die Horste liegen hoch und unzugänglich am Berg. Adulte Bartgeier können bis zu drei Kilo Gewicht durch die Luft schleppen. Das ist extrem viel, wenn man bedenkt, dass sie selbst fünf bis maximal sieben Kilo wiegen. Wally hat sich mit ihren ersten beiden Gamsläufen ganz schön plagen müssen. "Sie dürften um die 500 Gramm schwer gewesen sein", sagt Wegscheider, "das ist nicht ohne für den Anfang."

Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählen zu den spektakulärsten Greifvögeln weltweit. Und zwar nicht nur, wenn hoch am Himmel durch die Luft segeln. Auch aus der Nähe sind sie sehr imposant. Das liegt vor allem an dem hakenförmigen Schnabel und den schwarzen Federn, die von ihm borstenartig nach unten abstehen. Von ihnen hat der Bartgeier seinen Namen. Die Greifvögel sind harmlos. Sie fressen nur Aas und Knochen. Gleichwohl sind sie in den Alpen ausgerottet worden. Das hatte mit dem über Jahrhunderte gepflegten Irrglauben zu tun, dass sie Schafen und sogar Kleinkindern nachstellen. Deshalb wurden Bartgeier gnadenlos gejagt. 1906 wurde der letzte in Österreich abgeschossen.

(Foto: N/A)

In den Achtzigerjahren startete die Wiederansiedlung in den Alpen - vom Nationalpark Hohe Tauern aus. Die Projekte waren sehr erfolgreich. Aktuell leben wieder etwa 300 Bartgeier in den Alpen. Das Projekt in Berchtesgaden soll die Lücke zwischen den Populationen in den Ostalpen und auf dem Balkan schließen. Es wird vom Landesbund für Vogelschutz betrieben. Außer Wally, die von der SZ begleitet wird, ist dieses Jahr auch das Bartgeier-Weibchen Bavaria ausgewildert worden.

Bislang sind Wally und Bavaria noch hauptsächlich am Knittelhorn unterwegs. Beide kehren abends regelmäßig zu der Auswilderungsnische am Knittelhorn zurück und übernachten in ihr oder in unmittelbarer Nähe. Wegscheider ist darüber ganz froh. "So haben wir die beiden bestens im Blick und wissen, dass es ihnen gut geht", sagt er. "Das ist gerade in der Anfangszeit wichtig." Zumal Wally und Bavaria die ersten beiden Bartgeier sind, die der LBV in die Natur entlässt. Wegscheider und sein Team müssen selbst noch Erfahrungen sammeln. Denn Bartgeier können auch anders. "In der Schweiz, da sind zwei Jungvögel schon eine Woche nach ihrer Auswilderung praktisch verschwunden", berichtet der Biologe. "Die Kollegen dort bekommen sie kaum noch zu Gesicht und sind in großer Sorge, dass die beiden ausreichend Nahrung finden und nicht - unerfahren wie sie sind - in das Seil einer Seilbahn fliegen."

Schaukämpfe am Knittelhorn: Ein Steinadler (links unten) verfolgt das Bartgeier-Weibchen Bavaria. (Foto: Markus Leitner/LBV)

Aber auch beim LBV richten sie sich darauf ein, dass Wally und Bavaria bald ihren Aktionsradius ausweiten. Der Umkreis um das Knittelhorn, in dem Wegscheider und sein Team Knochen und andere Teile von Gämsen auslegen, die im Rahmen der winterlichen Jagd im Nationalpark angefallen sind, wird immer größer. Die Bartgeier-Weibchen sollen nämlich auch dann fündig werden können, wenn sie einmal nicht zu ihren gewohnten Futterplätzen zurückkehren. Zugleich sollen sie lernen, dass sie auch an Stellen Futter entdecken können, die sie bisher nicht im Blick haben. "Denn das ist wieder ein wichtiger Lernschritt", sagt Wegscheider, "wie sonst sollen Wally und Bavaria kapieren, dass sie in Zukunft selbst nach Knochen und anderen Kadaverteilen Ausschau halten müssen."

© SZ vom 11.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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