Pflegeheim in Fischbachau:Grausamkeiten auf 138 Seiten

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In München hat der Prozess gegen ehemalige Pfleger begonnen, die behinderte Menschen gequält haben sollen. Faustschläge und Tritte waren üblich, einmal wurde auch ein Fernseher geworfen.

Dietrich Mittler

Regungslos verfolgt am Montag Bodo R., der ehemalige Heimleiter der Behinderten-Einrichtung "Neuer Weg", wie die Staatsanwaltschaft gut eine Stunde lang die Vorwürfe gegen ihn und drei Mitarbeiter auflistet - Vorwürfe, die Staatsanwalt Florian Gliwitzky in der Verhandlungspause auf die kurze Formel bringt: "Gemeinschaftliche Misshandlung von Schutzbefohlenen, um sie einzuschüchtern und ruhigzustellen."

Die Behinderten-Einrichtung "Neuer Weg" in Fischbachau. (Foto: Foto: Dietrich Mittler/oH)

Hinter diesen nüchternen Worten verstecken sich Beschuldigungen, die im Gerichtssaal teils ungläubiges, teils betroffenes Kopfschütteln auslösen. In vielen Fällen wurden laut Anklage Heimbewohner gezielt provoziert, um bei ihnen sogenannte Krisen auszulösen. Die wurden dann mit brutaler Gewalt beendet - etwa mit Faustschlägen und Tritten, durch Würgegriffe oder in einem Fall sogar damit, dass einem Bewohner ein Fernsehgerät an den Kopf geworfen worden sein soll.

Mehr Sitzungstage angesetzt

Galten Pflege- oder Behinderten-Einrichtungen früher bisweilen als rechtliche Grauzonen, so stellt die Zweite Strafkammer des Landgerichts München II von Anfang an klar, dass sie keine Mühen scheut, um diesmal den Vorwürfen auf den Grund zu gehen. Waren zunächst nur 14 Verhandlungstage angesetzt, so geht der Vorsitzende Richter Thomas Bott nun bereits von etwa 20 Sitzungen aus.

Dem medizinischen Sachverständigen Albrecht Stein, der unter anderem die Vernehmungsfähigkeit der Bewohner geprüft hat, wurde nach eigenem Bekunden gar nahegelegt, sich notfalls auf 40 Verhandlungstage einzustellen. Die Verteidigung trägt bereits jetzt dazu bei, dass das Verfahren voraussichtlich nicht - wie ursprünglich geplant - Ende Juli zu Ende sein dürfte: Sie hat gleich zu Beginn des Verfahrens eine Woche Verhandlungspause beantragt, weil sie die Besetzung des Gerichts in Frage stellt.

Der Fall "Neuer Weg" mit seinen Häusern in Fischbachau und Hausham führt das Gericht in eine Welt, in der Normalität und Wahrheit nur schwer zu finden sind. Die gut 60 Heimbewohner in den beiden Häusern sind hoch aggressiv - gegen sich selbst und gegen andere. "Endzeitfälle", hatte sich einer der Polizeibeamten notiert, der mit dem Fall befasst war.

Doch die Ermittler scheuten offenbar keine Mühe, trotz der zum Teil wirren oder sich widersprechenden Aussagen immer wieder nachzubohren - mit einem enormen Aufwand, wie Staatsanwalt Florian Gliwitzky betont: "An diesem Fall arbeiteten zehn Beamte der Kriminalpolizei sowie acht Staatsanwälte mit." Es wurden gut 140 Zeugen befragt, und die Anklageschrift ist 138 Seiten dick, nur noch übertroffen durch das Gutachten des Arztes Albrecht Stein, das, wie er sagt, 300 Seiten umfasst.

Vorerst, so ließ Gliwitzky durchblicken, sei aber eine Vernehmung der Opfer nicht geplant. Das könnte sich in dem Fall ändern, wenn die Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten abstreiten. Mit Ausnahme von Heimleiter Bodo R., der mit einem Freispruch aus dem Gerichtssaal gehen will, haben die anderen Angeklagten aber bereits Teilgeständnisse abgelegt - auch jener Kollege, dessen Verfahren abgetrennt wurde.

"Die Teilgeständnisse würde ich nicht zu hoch bewerten", sagt indes Bodo R.s Verteidiger Daniel Peter. Bernd Schaudinn, der den Heimleiter ebenfalls vertritt, weist den Vorwurf zurück, sein Mandant habe Untergebene zur systematischen Misshandlung von Heimbewohnern angewiesen. "Alles aus dem Zusammenhang gerissen", sagt er. Der Heimleiter habe nur gesagt, dass Gewalt, die von Bewohnern ausgehe, mit Gewalt zu beantworten sei.

Staatsanwalt Gliwitzky geht davon aus, dass das Pflegekonzept des Neuen Wegs letztlich "nicht funktioniert hat". In Fischbachau und Hausham werden Bewohner bewusst nicht mit Medikamenten ruhiggestellt oder tagelang in ihren Betten fixiert. "Da hat es Bewohner gegeben, bei denen dieses System offenbar versagte", sagt er. Aber deshalb dürften Pflegekräfte noch lange nicht auf die Aggression der Bewohner mit roher Gewalt reagieren: "Die Angeklagten waren sich ihrer Machtposition bewusst, und sie haben sie ausgenutzt", sagt der Staatsanwalt.

© SZ vom 18.5.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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