Missstände in Pflegeheimen:"Der Pflege-TÜV ist die Legalisierung des Betrugs"

Lesezeit: 2 min

Ein Augsburger Heim für Demenzkranke hat vom Pflege-TÜV die Bestnote bekommen. Unverdient, wie der frühere Polizist, der das Heim leitet, sagt. Die Bewertung gaukle Angehörigen vor, dass Patienten gut versorgt seien, während sich zwei Pflegekräfte zeitweise um 30 Patienten kümmern müssten.

Andreas Ross

Armin Rieger könnte sich zurücklehnen und zufrieden auf sein Zertifikat verweisen. Immerhin hat der sogenannte Pflege-TÜV sein privates Heim für demente Patienten mit der Note eins ausgezeichnet. Besser geht nicht mehr. Und doch ist der 54-Jährige alles andere als zufrieden. "Diese Bewertung ist doch ein Witz, das hieße ja, mein Pflegeheim ist frei von Fehlern und Mängeln. Das ist es aber nicht, das weiß ich doch selbst am Besten. Kein Heim bei uns hat diese Note verdient, aber wohin man schaut, überall zeigen die Heimleiter stolz ihre Bestbewertung vor." Armin Rieger sagt das öffentlich, vor Zuhörern aus der Pflegebranche, vor Journalisten. Freunde macht man sich damit in der Branche nicht. Aber darum geht es dem Heimleiter nicht, sondern er will aufrütteln, obwohl er andererseits bereits resigniert hat. Denn Armin Rieger ist auch der Sprecher des Augsburger Pflegestammtischs. Mehrere Jahre hat er sich dort engagiert, für eine bessere Pflege in den Heimen gekämpft. Doch an diesem Donnerstagabend ist für ihn Schluss: "Die Luft ist raus, es macht keinen Sinn mehr." Damit gehört nach München, wo bereits 2010 für den Pflegestammtisch das Licht ausging, auch die Augsburger Gesprächsplattform der Vergangenheit an. Nur in Nürnberg hält sich noch eine vergleichbare Einrichtung.

Dabei ist die Pflege eigentlich ein Megathema. Denn immer mehr Menschen in unserem Land erreichen ein hohes Alter, doch ihre Gesundheit hält oftmals damit nicht Schritt. Demenz und andere Alterskrankheiten lassen aber meist die Pflege zu Hause nicht mehr zu, es bleibt nur noch der Ausweg Pflegeheim. Aber genau dort ist es vielerorts um die zu Pflegenden nicht gut bestellt, wenn man den Worten des mittlerweile bundesweit bekannten Münchner Pflegekritikers Claus Fussek glaubt. "Wir haben in Deutschland 120 000 Patienten, die ans Bett gefesselt sind, aber es interessiert keinen", sagt Fussek, der an diesem Abend nach Augsburg gekommen ist, um sozusagen die "Grabrede" auf den Pflegestammtisch zu halten. "Dabei haben alle diese Heimbewohner Angehörige oder zumindest einen gesetzlichen Betreuer", betont Fussek. Er sei inzwischen selbst ein "pflegender Angehöriger" und er habe es sich zur Aufgabe gemacht, für die Pflegebedürftigen zu sprechen, die sich selbst nicht mehr zu Wort melden könnten. "Denn", so Fussek, "das ist die schwächste Gruppe in unserer Gesellschaft."

Fussek lobt auch den Mut von Armin Rieger, die Dinge ungeschminkt anzusprechen. Dieser hatte zur letzten Sitzung des Pflegestammtischs unter der Überschrift geladen: "Ehrlichkeit in der Pflege - eine Analyse des Scheiterns." Schon von seiner Vita her ist der Augsburger Heimleiter zur Aufklärung prädestiniert. Denn vor seinem Einstieg in ein privates Pflegeheim, das ihm heute gehört und dessen Geschäftsführer er zugleich ist, war Rieger bei der Kriminalpolizei - als verdeckter Ermittler und bei der Drogenfahndung. Und so hat er auch kein Problem, in aller Offenheit die Mängel in seinem eigenen Haus anzusprechen. "Wir haben 33 Heimbewohner und 14 Pflegekräfte in Vollzeit. Die arbeiten alle prima, aber alle auch am Limit", sagt er. Dramatisch werde es in Urlaubszeiten und wenn noch Krankheitsfälle hinzukämen. Da müssten oftmals stundenweise zwei Pfleger mit 30 Patienten zurechtkommen. "Es ist so, ich will da nichts beschönigen - und doch habe ich die Supernote bekommen", sagt Rieger. Und dann wird der ehemalige Polizist noch ein wenig deutlicher: "Der Pflege-TÜV ist nichts anderes als die Legalisierung des Betrugs."

Fussek und Rieger machen aber auch deutlich, dass ihre Kritik nicht den Pflegekräften gilt. Vielmehr müssten sich Angehörige und pflegendes Personal solidarisieren, um bessere Bedingungen zu erreichen. "Wir brauchen Kümmerer und Paten für die Heiminsassen." Jeder in der Gesellschaft spreche sich für eine bessere Pflege im Alter aus, aber sie werde von den Bürgern nicht eingefordert", klagt Fussek. Stammtische seien deshalb nicht mehr notwendig. Die Fakten seien alle längst bekannt. "Wir brauchen eine Kommunalisierung der Pflege. Menschen müssen sich endlich um Menschen kümmern", ruft Fussek in den Saal.

© SZ vom 22.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: