Kunst:Wenn die Fantasie überschwappt

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Die Werke des Augsburger Surrealisten Wolfgang Lettl haben endlich wieder eine Heimat gefunden

Von Sabine Reithmaier

Verschmitzt lächelt Wolfgang Lettl dem Besucher entgegen. Elegant sieht er aus im Smoking mit Fliege, viel besser als die uniformierten Herren auf dem Historienbild hinter ihm. Nur der mit Busen gepolsterte Stuhl, auf den sich der Maler stützt, und die aus der Tapete kullernden Erbsen stören die Feierlichkeit. Fast 45 Jahre galt sein "Selbstbildnis mit Reichsgründung und grünen Erbsen" als verschollen, jetzt hängt es im Entree des neuen Lettl-Museums in Augsburg.

Bereits 1974, im Jahr seiner Entstehung, war das Gemälde aus der Großen Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst nach Brasilien verkauft worden. In der Familie blieb als Erinnerung nur ein Schwarzweißfoto zurück. Erst vor einem Jahr tauchte das Bild auf einer Versteigerung in Nizza wieder auf, den entscheidenden Hinweis hatte Florian Lettl zuvor aus Schweden erhalten. "Das war kein Zufall, sondern eine Botschaft", sagt der Sohn des Malers, überzeugt davon, der 2008 gestorbene Vater habe ihm das Bild zurückgeschickt. Wie auch immer: Das Selbstporträt motivierte ihn, noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren, um eine dauerhafte Bleibe für dessen Werk in Augsburg zu finden, was sich der surrealistische Maler immer gewünscht hatte. Dieses Ziel hat Florian Lettl, unterstützt von seiner Familie und einem sehr aktiven Förderkreis, tatsächlich erreicht: Rechtzeitig zum 100. Geburtstag des Malers hat das "Lettl-Museum für surreale Kunst" in der Zeuggasse 9 eröffnet.

An die Protestbewegung der "Sardinen" dachte Wolfgang Lettl (1919-2008) noch nicht, als er 2004 den "Vierten Fall" malte. (Foto: Lettl-Museum)

Normalerweise kauft Florian Lettl, im Alltag Lehrer und im Nebenberuf Verwalter des künstlerischen Erbes, keine Werke des Vaters zurück. Er ist mit den mehr als 500 vorhandenen Arbeiten gut ausgelastet. "Aber bei dem Gemälde habe ich eine Ausnahme gemacht", sagt er. Eine gute Entscheidung, denn das Selbstporträt bietet den idealen Einstieg in die Ausstellung, die 630 Quadratmeter in dem ehemaligen Einrichtungshaus einnimmt.

131 Bilder hat Lettl durch geschicktes Raummanagement und diverse Stellwände untergebracht. Gerade die großen Formate könnten noch mehr Luft vertragen. "Aber es darf ja alles nicht zu viel kosten", seufzt Lettl und lobt im selben Atemzug Hauptsponsor Bernd Nill, der die Räume zur Verfügung stellt. Aber auch die Stadt trägt mit einer Anschubfinanzierung von 25 000 Euro dazu bei, dass die Augsburger wieder in die Bildwelten des Surrealisten eintauchen können. Genau genommen ist es der zweite Anlauf für eine museale Präsentation, denn 20 Jahre lang hatte es schon ein Lettl-Atrium in der Industrie- und Handelskammer gegeben. 2013 war damit Schluss, die IHK benötigte die Räume selbst. Seither lief die Suche nach einem neuen Domizil. Werke aus allen Schaffensphasen und sieben Jahrzehnten sind in der Schau vertreten. Lettl war als Maler ein Autodidakt. Die ersten Aquarelle entstanden, als er von 1940 bis 1943 Nachrichtensoldat in Paris war. Zurück in Augsburg beschäftigen ihn in den ersten Nachkriegsjahren die Ruinen der Stadt, die er in zarten Aquarellen dokumentiert. Nebenbei beginnt er, kleine absurde Geschichten zu erzählen und seine Träume in Bildern umzusetzen. Eine Weile verdient er sein Geld als Bauarbeiter, das Studium an der Akademie in München hat er abgebrochen. Als 1952 eine Bewerbung am Landesamt für Denkmalpflege scheitert, beschließt er, es als freischaffender Maler zu versuchen.

In den folgenden Jahren experimentiert er mit verschiedenen Stilrichtungen und Bildordnungen, entwickelt allmählich seine fantastisch-spielerische Bildsprache und die surrealen Räume, in die sich aber auch impressionistische Momente einschleichen. Oder er malt in die "Lösung des Problems" bis ins letzte Detail realistisch einen sanft blickenden Löwen inmitten eines blühenden Kastanienwaldes. Über das Tier ist ein goldener Käfig gestülpt, vor dem Gitter aufgereiht stehen Frauenschuhe. Wo sind ihre Trägerinnen geblieben?

Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Lettl eröffnet das gleichnamige Museum in Augsburg. (Foto: Lettl-Museum)

Raum für Assoziationen bieten Lettls Bilder reichlich. Der Hahn als sein Alter Ego taucht 1946 zum ersten Mal auf, wenig später folgt der flache schwarze Schattenmann, die Silhouette einer menschlichen Gestalt, ebenfalls ein Dauerbegleiter im Lettlschen Kosmos. Aber es gibt noch andere regelmäßig verwendete Requisiten: Steile Treppen, die ins Nichts führen, wacklige Brücken, hohe Wände, Fenster, Türen, nicht zu vergessen Pferde oder Fische. Im "Vierten Fall" ragen Letztere dicht aneinander gedrängt, neugierig blickend, aus dem Meer - sofort denkt man an die italienische "Sardinen"-Protestbewegung; der dort kopfüber ins Wasser stürzende Ikarus könnte auch Lega-Chef Matteo Salvini sein. Lettl hat das Bild freilich schon 2004 gemalt.

Zur Erklärung, warum er so verrückte Bilder male, zitiert Wolfgang Lettl einen von ihm befragten Psychiater. Der habe von überschwappender Fantasie geredet, die "vorzugsweise Lustmörder und Ideologen, unter Umständen wohl auch schon mal einen Surrealisten" produziere. Und der unbedingt wissen wollte, ob er seine Jugend in einem langweiligen Spießernest zugebracht hätte? "Keineswegs, sagte ich, einmal haben wir sogar mit der Schulklasse den Goldenen Saal besichtigt."

Lettls "Selbstbildnis mit Reichsgründung und grünen Erbsen" galt 45 Jahre als verschollen, doch jetzt hängt es im neuen Museum. (Foto: Lettl-Museum)

Lettl-Museum für surreale Kunst, bis 1.1. Eintritt frei, geöffnet Di. bis Do. 13 - 15 Uhr, Fr. bis So. 11 - 17 Uhr, Zeuggasse 9, Augsburg

© SZ vom 20.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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