Kriseninterventionsteam für Muslime:Eine Sure, die in die Seele geht

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Wenn zu ungewöhnlichen Zeiten das Telefon klingelt, ahnt Ilhan Atum bereits: Es ist etwas Schreckliches passiert. Der 48-Jährige betreut in einem bayernweit einzigartigen Projekt muslimische Angehörige nach schweren Schicksalsschlägen - damit Hinterbliebene nicht nur mit einem Vaterunser getröstet werden.

Dietrich Mittler

Das Kriseninterventionsteam "Birlik": Sezgin Balaban, Ilhan Atum und Sevket Ibis (unten von links).  (Foto: Erich Stauber/oh)

Auch nach diesem Einsatz fragte Ilhan Atums Frau: "Wo warst du?" Atum setzte sich also wie immer zu ihr an den Tisch, um zu berichten, was passiert ist. "Beim letzten Mal sagte ich ihr: 'Da war ein Verkehrsunfall, und die junge Frau ist tot'." Meist fragt sie dann weiter: "Aus welcher Stadt in der Türkei kommt die Familie? Kennen wir sie?" Atums Stimme, die seine Verwurzelung in Niederbayern nicht leugnen kann, klingt fest und ruhig. "So was sage ich ihr auch noch, aber weiter nichts - es ist zu schlimm", sagt er.

Wenn zu ungewöhnlichen Zeiten das Telefon klingelt, ahnt es der 48-Jährige bereits: Irgendwo stehen neben verkeilten Autowracks traumatisierte Menschen am Straßenrand, irgendwo ist nach einem Verbrechen oder nach einem Suizid den Angehörigen die schreckliche Nachricht überbracht worden. Und die brauchen jetzt Beistand.

Vor mehr als fünf Jahren stieß Ilhan Atum zum ehrenamtlichen Kriseninterventionsdienst des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) in Kelheim. Mit weiteren zwei türkischstämmigen Männern bildet er dort das Team "Birlik" - eine Einsatzgruppe, eigens geschaffen zur Notfallseelsorge und Krisenintervention für Menschen muslimischen Glaubens. "Eine derartige Gruppierung sucht man in ganz Bayern, ja selbst in Hamburg und Berlin vergeblich", sagt Erich Stauber. Der 58-jährige BRK-Rettungsassistent ist die treibende Kraft hinter dem Kelheimer Projekt, das 1995 seine Anfänge nahm.

Damals war ein 14-jähriges Mädchen auf dem Fahrrad in Kelheim eine steile Hangstraße hinuntergerast. Die Bremsen versagten, das Mädchen prallte gegen eine Betonmauer: "Sie war nicht mehr zu retten", sagt Stauber. Ein Rettungsassistent kümmerte sich schließlich darum, dass die Freunde des Mädchens, die weinend und völlig hilflos in der Menge der Gaffer standen, notdürftig betreut wurden. Das war im Grunde die Geburtsstunde der "Mobilen Organisation Notfallseelsorge und Anschlussdienste", kurz Mona.

Bereits zwei Jahre später war die Einsatzstatistik von Mona voll von dramatischen Ereignissen: tödliche Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Suizide, Raubüberfälle, Sexualdelikte, Drogentote, heftige Familienstreitigkeiten - Stauber und seine Mithelfer blickten in menschliche Abgründe. Doch das Team aus evangelischen und katholischen Notfallseelsorgern und den ehrenamtlichen Kriseninterventionshelfern schien allen Herausforderungen gewachsen.

Dann aber geschah ein Unglück, das den Helfern ihre Grenzen aufzeigte: Eine junge türkische Frau war mit dem Auto von der Straße abgekommen und gegen eine Felswand geprallt. "Sie und ihr einjähriges Kind wurden dabei tödlich verletzt", erinnert sich Stauber. Die Angehörigen der Unfallopfer eilten zur Unglücksstelle, die Rettungskräfte - mit Trauernden überfordert - baten Mona um Unterstützung, und kurz darauf traf ein katholischer Priester ein. "Was mache ich jetzt mit muslimischen Mitbürgern, rein von der Seelsorge her?", fragte sich dieser. Pfarrer Horst Mally löste das Problem am Ende so: Er betete mit den Hinterbliebenen das Vaterunser. Sie waren dankbar für seinen Beistand. "Aber wir haben uns hinterher doch gedacht, so kann's ned geh'n", sagt Stauber.

Dann kam der Durchbruch: Deborah Zinsser, die Dritte Vorsitzende des BRK-Kreisverbandes Kelheim, startete unter den türkischen Mitarbeitern ihrer Firma eine Umfrage. Drei Männer meldeten sich: der Ingenieur Sezgin Balaban, der Mona zuvor schon als Übersetzer unterstützt hatte, der Vorarbeiter Sevket Ibis, der jetzt den Türkisch-Islamischen Verein in Kelheim leitet, und eben Ilhan Atum, der die Verse des Korans auf Arabisch vortragen kann. Gemeinsam wurde ein Name für die neue Untergruppe von Mona gesucht - heraus kam dabei "Birlik", was sich am besten mit "Zusammenhalt, Gemeinsamkeit" übersetzen lässt. "Ein Zeichen für die Integration ausländischer Mitbürger und die Koexistenz der großen Religionen in unserem Land", schrieb Erich Stauber damals. Und das waren keine leeren Worte. Er, der gläubige Katholik, wünschte den Neuen im Team "die Gnade Allahs, sodass sie spüren, wie segensreich ihre Arbeit ist".

Einsatz nach Albtraum-Szenarien: Auch nach diesem schweren Verkehrsunfall war das muslimische Kriseninterventionsteam "Birlik" gefragt.  (Foto: Erich Stauber/oh)

"Tu dir keinen Stress an", hatte Balabans Ehefrau ihren Mann noch gewarnt, doch zwei, drei Monate später war es bereits so weit. Da kam der Anruf von Erich Stauber an Sezgin Balaban, den Sprecher der Gruppe: "Wir haben da einen Unfall, ein etwa 40-jähriger türkischer Mann ist tot, hinterlässt Frau und zwei Kinder, bitte sofort losfahren nach Neutraubling."

Als Balaban und Atum zu den Trauernden kommen, sind die Frau des Toten und ihre Tochter bereits durch die Polizei informiert - sie weinen. An den Wänden entdeckt das Birlik-Team eingerahmte Koransprüche. Gläubige Muslime, schlussfolgert Balaban. Sein Kollege Ilhan Atum liest schließlich auf Bitten der Angehörigen die Sure Ya Sin, die der Prophet Mohammed der Überlieferung nach mit den Worten pries: "Alles hat ein Herz, und das Herz des Koran ist die Sure Ya Sin." "Wenn man die liest, dann werden die Leute ganz ruhig. Diese Sure geht nicht in den Kopf oder die Ohren, sie geht in die Seele", ist Atum überzeugt.

In der muslimischen Welt wird der Tod als etwas Gottgegebenes empfunden. Der Koran lehrt die Gläubigen, dass kein Unglück eintreffe, das nicht bereits in der Schrift verzeichnet wäre. Der Mensch soll demnach vermeintlich entgangenem Glück nicht nachtrauern. "Allah hat gegeben, Allah hat genommen", sagt auch Sezgin Balaban. Aber für ihn sind dies Worte des Trostes. "Ich habe ja in der eigenen Familie schon Todesfälle erlebt, und mir hat das immer geholfen", sagt er.

Trauer, darin sind sich die drei Männer von Birlik einig, ist nicht an Regeln gebunden. "In einem Trauerfall kann jeder machen, was er will - er hat den Schmerz. Wir sind einfach diejenigen, die dabei sind", sagt Ibis. Bei jedem Einsatz, so weiß der 38-Jährige, der 1978 als kleiner Bub mit seiner Familie aus dem mittelanatolischen Yozgat nach Kelheim gekommen war, steht das Birlik-Team vor neuen Herausforderungen. Und doch gibt es da so etwas wie ein Eingangsritual: "Wir begrüßen die Leute ganz leise und sprechen jedem, den wir sehen, unser Beileid aus", sagt Balaban. "Basiniz sagolsun", heißt das auf Türkisch.

Sind schon die Angehörigen und viele Freunde der Hinterbliebenen anwesend, so setzen sich die Männer von Birlik bisweilen auch nur schweigend zu ihnen an den Tisch. Wollen die Menschen reden, so hören sie zu. Und suchen die Trauernden Trost, so trösten sie. Doch bisweilen geraten Balaban, Ibis und Atum auch in Situationen, die geradezu apokalyptisch erscheinen, besonders nach Gewaltverbrechen: überall Blaulicht, die aufgeregte Menge vor dem Polizeirevier, bei der man erst einmal klären muss, ob es die Angehörigen und Freunde des Opfers oder die des möglichen Täters sind, und der Anblick von Toten - so wie etwa nach einem Nachbarschaftsstreit in Regensburg. "Der Mann lag blutüberströmt vor dem Haus", erinnert sich Sevket Ibis.

Ibis schiebt die schrecklichen Eindrücke von sich weg - so gut es eben geht. "Wenn ich da zu tief reingehe, dann komme ich nicht wieder raus", sagt er. In ihrer Ausbildung zum Kriseninterventionshelfer haben die Birlik-Mitglieder auch gelernt, den Kopf wieder frei zu bekommen. "Manchmal geht das erst nach ein paar Tagen, manchmal braucht es nur Stunden", sagt Balaban

Bisweilen geht es aber auch gar nicht, so wie etwa nach dem tragischen Unfalltod einer jungen Frau. "Der Bruder war zunächst völlig apathisch, dann ist er aus dem Zimmer gerannt und wollte vom Balkon runterspringen", erinnert sich Ilhan Atum. Er konnte den jungen Mann aufhalten. Während er sich um den Jugendlichen kümmerte, musste Balaban die Mutter vom Balkon zurückhalten. Sie wollte sich in ihrer Verzweiflung ebenfalls in die Tiefe stürzen.

Dramen wie diese erleben auch die 23 anderen Mitglieder von Mona - und doch gibt es kulturelle Unterschiede: Sind die deutschen Hinterbliebenen oft allein in ihrer Trauer, so eilen bei den Türken Verwandte, Freunde und Bekannte herbei, um zu helfen. Und noch etwas unterscheidet die türkischen Trauernden von den deutschen: In ihrem Schmerz, so berichtet Atum, gehen die Geschlechter in traditionell geprägten Familien oft getrennte Wege: "Die Frauen gehen in den einen Raum, die Männer in einen anderen."

Begegnungen eines männlichen Kriseninterventionshelfers mit einer trauernden Muslimin - ein heikles Thema. Als Anfang Dezember 2007 in Abensberg ein achtjähriger Schulbub von einem anfahrenden Bus zu Tode geschleift wurde, musste Balaban schließlich die Mutter aufsuchen. Beim ersten Mal ging der Imam mit, das war kein Problem. Das zweite Mal hätte er alleine hinfahren müssen, um mit der Frau zu reden - und ihr Mann, ein Fernfahrer, war nicht zuhause. Balaban löste das Problem, indem er seine Tochter Yasemin mitnahm.

Der 49-Jährige weiß selbst um die Barrieren im Kopf. Und er weiß auch, dass er als Deutschtürke inzwischen zwei Kulturen in sich trägt. Macht er den Mund auf, so spricht da einer, der im Ruhrpott aufgewachsen ist. "Ja, isso!", sagt Balaban. Aber wenn er sich vorstellt, dann doch auf eine sehr türkische Weise: "Ich bin verheiratet, habe vier Kinder, zwei Schwiegersöhne, eine Schwiegertochter und fünf Enkel", sagt er stolz. Immer wieder hört das Birlik-Team von Deutschen die Frage, wie sie trauernden Muslimen begegnen sollen. Sevket Ibis antwortet darauf: "Was zählt, ist Gefühle zu zeigen. Nur das machen, was vom eigenen Herzen kommt. Aber das gilt ja für Deutsche und für Türken."

© SZ vom 02.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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