Kratzers Wortschatz:Vom Frevel, Aschheim als Kaff zu bezeichnen

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Auf die Ferne ist es nie leicht, Dimensionen richtig einzuschätzen. Klug wäre derjenige, der sich vorher wenigstens schlau macht

Von Hans Kratzer

Kaff

Wenn das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel Ortschaften in der bayerischen Provinz erwähnt, läuft es stets Gefahr, sich im Ton zu vergreifen. Zuletzt war in einer Geschichte über den ins Taumeln geratenen Finanzkonzern Wirecard zu lesen, der Aufstieg des Hightech-Stars "aus dem 9200-Einwohner-Kaff Aschheim bei München" sei einzigartig gewesen. Wirecard residiert in einem Aschheimer Bürokomplex. Aschheim als Kaff zu bezeichnen, ist nicht nur überheblich, sondern auch historisch falsch. Der Name Aschheim wurde schon 756 erwähnt, da tummelten sich dort, wo später Hamburg entstand, höchstens ein paar Schafwascher. In Aschheim aber lebten schon Jahrtausende vorher fortschrittliche Menschen. Die ältesten Spuren bezeugen Grabfunde aus der Zeit der Schnurkeramik (2800 bis 2300 v. Chr.) und aus der Glockenbecherkultur (2600 bis 2300 v. Chr.). Im Jahr 756/57 fand in Aschheim die erste bayerische Landessynode statt; kurz darauf erwähnte der Freisinger Bischof Arbeo Aschheim in der Vita des heiligen Emmeram. Große Münchner Familien wie Schrenk, Rosenbusch, Donnersberg, Ruepp und Lerchenfeld sind seit 1500 eng mit der Aschheimer Geschichte verbunden. Aschheim ist alles andere als ein Kaff, denn ein solches wäre laut Kluges Etymologischem Wörterbuch ein elendes Nest. Der vulgärsprachliche Ausdruck fand einst aus dem Rotwelschen (kefar, Dorf) Eingang in unsere Sprache.

furt sein

Viele bangen wegen der Corona-Krise um ihre Urlaubsreise. So unbeschwert, wie es immer war, wird das Reisen wohl nicht mehr werden. Auch der Friseur stellte im Sommer stets die obligatorische Frage: "Warts heuer scho furt?" Das heißt: Wart ihr schon im Urlaub. Fort (furt) sein, das ist eine uralte Sehnsucht. Früher haben die Landmenschen ihre Heimat selten verlassen. Vor wenigen Jahrzehnten gab es noch Frauen, die nie über ihren Hof hinausgekommen sind, höchstens mal zu einer Beerdigung in die Nachbargemeinde. Furt sein - wie außergewöhnlich dies war, klingt in der Wendung immer noch deutlich nach.

© SZ vom 30.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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