Die Hiebe hallen aus dem Lautsprecher. Der Ton ist übersteuert, jeder Knall dröhnt blechern durch den Gerichtssaal E. Es ist Dienstagmorgen, in wenigen Stunden wird der Vorsitzende Richter am Amtsgericht Nördlingen das erste Urteil fällen im Strafverfahren gegen ein Mitglied der urchristlichen Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme". In den Videosequenzen, die auf zwei Computerbildschirmen im Gerichtssaal übertragen werden, sind zwei kleine Buben zu sehen.
Das laute Knallen sind die Hiebe, die sie mit einer Weidenrute auf den Po bekommen, von ihrer eigenen Mutter. Antje P. sitzt an diesem Morgen auf der Anklagebank. Zu den Vorwürfen äußern will sie sich nicht. Dass sie ihre Kinder liebe, sagt sie im Eingangsplädoyer, und ihnen "auch Grenzen" setze, "damit sie vor Unfällen und Gefahren geschützt werden." Dann schweigt sie.
Nach zwei Stunden verurteilt das Gericht sie wegen gefährlicher Körperverletzung zu neun Monaten Haft auf Bewährung und 180 Sozialstunden.
Antje P. gehört zur Glaubensgemeinschaft der "Zwölf Stämme", die in den Siebziger Jahren in den USA entstand. Rund 2000 Mitglieder hat die urchristliche, bibeltreue Gemeinschaft weltweit. Etwa 100 von ihnen leben auf einem Gutshof im Deininger Ortsteil Klosterzimmern (Kreis Donau-Ries).
Aussteiger bestätigten Gerüchte über Misshandlungen
Auch Antje P. lebt dort mit ihrer Familie. Die "Zwölf Stämme" machen keinen Hehl daraus, dass sie ihre Kinder regelmäßig "disziplinieren", wie sie es nennen. Sie berufen sich dabei auf Bibelzitate - und darauf, dass ihren Kindern diese Erziehungsmethoden nicht schadeten.
Die deutschen Gesetze sehen das anders. In einem zweiten Verfahren wurde am Dienstag eine weitere Mutter der "Zwölf Stämme" ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, sechs Monate auf Bewährung. Schon länger hatte es Gerüchte über Misshandlungen und Schläge mit Weidenruten bei den "Zwölf Stämmen" gegeben, Aussteiger hatten diese Annahmen bestätigt. Weil es aber keine handfesten Beweise gab, hatte das Jugendamt keine Rechtsgrundlage zum Eingriff.
Das änderte sich im August 2013. Wolfram Kuhnigk, ein Reporter des Fernsehsenders RTL, hatte auf dem Gutshof in Klosterzimmern mit versteckten Kameras gefilmt. Seine Videos belegten in aller Deutlichkeit das lange Vermutete: Bei den "Zwölf Stämmen" werden Kinder mit Hieben auf das Gesäß bestraft.
Wie das Jugendamt reagierte
Das Jugendamt griff ein. Auf Anordnung der Amtsgerichte Ansbach und Donau-Ries wurden am 5. September 2013 schließlich 40 Kinder aus ihren Familien genommen. Hundert Polizisten standen im Morgengrauen bei den Familien in Klosterzimmer vor der Tür. Sie nahmen die Kinder mit und entzogen den Eltern das Sorgerecht. Noch heute, 16 Monate später, dürfen viele Eltern ihre Kinder nur unter Aufsicht besuchen, einmal wöchentlich, oder, wie im Fall von Antje P., sogar nur alle drei Wochen.
Dieser Zustand sei die "tatsächliche Misshandlung" an ihren Kindern, sagen Mitglieder der "Zwölf Stämme". Sie haben vor dem Gerichtsgebäude einen Pavillon aufgebaut und Infomaterial ausgelegt. Auch Untersuchungsergebnisse des Gesundheitsamts aus dem Jahr 2012 haben sie dabei: Es gebe keine Hinweise auf Misshandlungen, heißt es darin, weder physische noch psychische. "Die Eltern-Kind-Beziehung war jeweils intakt."