Als der Zug in Wörth hält, packt Arif Khan seinen Rucksack und haut ab. Er drängt sich vorbei an den Leuten, an Koffern, hetzt hinaus auf den Bahnsteig und läuft davon. Eine Station weiter, in Landshut, haben drei Polizisten umsonst gewartet. Weil Herr Richter, der Schaffner, kurz nicht aufgepasst hat. Das stinkt ihm jetzt: "Nächstes Mal ist der Kerl dran."
Fünf Stunden vorher am Münchner Hauptbahnhof. Es ist kurz vor zwölf, an Gleis 25 wartet Khan, der eigentlich anders heißt. Er ist geschäftlich unterwegs, aber kein Business-Mann mit Aktentasche. Er trägt bequeme Schuhe, Rucksack, einen dunklen Pullover, hat viel Gel im kurzen Haar. Hart sei der Job nicht, aber stinklangweilig, sagt Khan. Was er nicht sagt: Dass er ein Betrüger ist.
Khans Schicht beginnt um neun Uhr früh in Nürnberg. Am Bahnhof kauft er ein Bayern-Ticket, mit dem er einen Tag lang kreuz und quer durch den Freistaat fahren kann. Vier Personen darf er mitnehmen - und die sind schnell gefunden. Geteilt durch fünf kostet der Fahrschein für jeden 7,60 Euro; das sind fast 15 Euro weniger als ein Einzelticket kosten würde. Auf der ersten Fahrt zahlt Khan drauf, in München angekommen greift dann sein Geschäftsprinzip: Von jetzt an bringt ihm jeder Ticket-Mitfahrer 7,60 Euro Gewinn. An Gleis 25 hält er Ausschau nach neuen Kunden. Nächstes Ziel: Passau.
Bis vor zwei Wochen, sagt Khan, habe er auf einer Gemüsefarm gearbeitet: ernten und putzen. "Da hast du zu tun, da geht die Zeit schnell rum. Das ist gut." Aber das Zugfahren bringe mehr Geld, sagt der 22-Jährige. Er rechnet vor: sieben Tage die Woche, vier Fahrten pro Tag - macht am Monatsende etwa 1500 Euro. Steuerfrei.
Khan ist frisch im Geschäft, ein Einzelkämpfer. Die Mehrheit der Ticket-Schlepper ist dagegen organisiert. Sie teilen Bahnsteige in Reviere auf, schieben sich Kunden zu, tauschen Tickets. Nebenan, auf Gleis 26, buhlen zwei Männer um Kundschaft. Einer fährt nach Regensburg, der andere bis Nürnberg. Wer sich dem Gleis nähert, wird angequatscht. Keine Viertelstunde später sind die zwei Reisegruppen komplett. "Easy", findet Arif Khan.
Wie hoch der Schaden für die Deutsche Bahn ist, weiß keiner so genau. Die Schattenwirtschaft kennt keine Statistiken. Doch angenommen, es gäbe nur einen einzigen Ticket-Schlepper in jeder bayerischen Großstadt: Es würden der Bahn mehr als 100 000 Euro im Jahr durch die Lappen gehen. Der wahre Schaden dürfte sehr viel höher sein. Allein am Münchner Hauptbahnhof tummelt sich locker ein Dutzend Schlepper, vielleicht sogar zwei. "Wir wissen es nicht genau, wir haben keine Zahlen", sagt ein Bahnsprecher. Was er sicher sagen kann: "Es ist eindeutig Betrug."
Es ist schwer, den Betrug nachzuweisen
Regionalbahn München-Passau, kurz nach halb eins. Khan ist mit vier neuen Mitfahrern unterwegs. Den Arm hat er angewinkelt und ans Zugfenster gelehnt, in den Ohren die Stöpsel seines MP3-Players, seine Beine wippen. Musik hören, sagt er, helfe gegen die Langeweile. Kurz vor Freising kommt der Schaffner ins Abteil, auf seinem Namensschild steht: Richter. Wortlos streckt Khan ihm das Ticket hin. Herr Richter zieht die Augenbrauen hoch und schimpft: "Ich kenn dich schon, mein Freund. Pass auf!" Eine Drohung, mehr kann Richter nicht tun. Es ist verboten, das Bayern-Ticket gewerblich zu nutzen, aber der Schaffner kann nicht beweisen, dass Khan vorher mit einer anderen Gruppe unterwegs war und dafür Geld genommen hat. Khan sagt kein Wort. Auch die Mitfahrer verraten ihn nicht - sie würden sich selbst strafbar machen.
Das "Taxifahren", wie die Bahner es nennen, ist für Schlepper und Mitfahrer ein Win-win-Geschäft: Die Schlepper verdienen gut daran, die Mitfahrer sparen sich Geld. Ein schwer zu kontrollierender Deal, wie der Bahnsprecher sagt: "Der bloße Verdacht reicht nicht aus, wir brauchen einen Nachweis." Und der sei nur möglich, wenn der Schlepper am gleichen Tag vom gleichen Schaffner mit unterschiedlichen Mitfahrern erwischt werde. Für die professionellen Schlepperbanden ist das leicht zu verhindern. Ein Beispiel: Schlepper A fährt von München nach Regensburg, tauscht dort mit Schlepper B das Ticket, danach fährt Schlepper A weiter nach Ingolstadt und Schlepper B zurück nach München. Weil die Schaffner in der Regel auf der gleichen Strecke hin und her fahren, bleiben die Schlepper-Profis unbehelligt.
Arif Khan ist kein Profi. In der Passauer Bahnhofshalle sammelt er vier neue Mitfahrer. Darunter Claudia, die in München wohnt und an der Uni Passau ihre Doktorarbeit schreibt. Die 28-Jährige durchschaut Khan sofort: "Ein richtig krasses Business" sei die Schlepper-Sache inzwischen: "Mich ärgert das: Er zahlt einmal 38 Euro, fährt hin und her und kassiert immer wieder ab." Claudia fährt trotzdem mit.
Mitfahrer gelten auch als Schwarzfahrer
Es ist viertel nach drei, als Khan mit der neuen Gruppe einsteigt. Es geht zurück nach München. Im selben Zug, mit dem er gekommen ist. Ein Anfängerfehler. Kurz nach Dingolfing steht der Schaffner im Abteil: Herr Richter. "Auch wieder dabei", sagt er, kramt sein Handy aus der Tasche und bestellt die Polizei zum Landshuter Bahnhof, wo der Zug in zwanzig Minuten halten wird. Wieder sagt Khan kein Wort, schaut durchs Fenster nach draußen. Es ist ein leerer Blick. Er kennt ja die Landschaft, die Tag für Tag an ihm vorbeizieht.
"Jetzt kriegt er eine Strafanzeige. Jeder muss sein Handeln verantworten, so einfach ist das", sagt Richter und dreht sich um zu Khans Mitfahrern. Auch ihnen droht Ärger. Weil sie streng genommen Schwarzfahrer sind. Doch statt 40 Euro Strafe für jeden darf die Gruppe ein neues Bayern-Ticket lösen. Der Schaffner ist gnädig, denn "diejenigen, die mitfahren, wissen oft gar nicht, dass sie sich auch strafbar machen", glaubt er. Viele aber wissen es und nehmen das Risiko trotzdem in Kauf - weil sie sich die Normalfahrpreise der Bahn nicht leisten können oder wollen.
Doktorandin Claudia und die anderen drei haben Glück: Nach kurzer Diskussion gibt Arif Khan jedem von ihnen die 7,60 Euro zurück. Ein bisschen sauer ist Claudia trotzdem. Wegen Leuten wie Khan, fürchtet sie, werde das Bayern-Ticket irgendwann abgeschafft. "Das planen wir nicht", sagt dagegen der Bahnsprecher, das Ticket sei schließlich "ein Preisrenner". Soll wohl heißen: Der Nutzen ist für die Bahn größer als der Schaden, der durch die Schlepper entsteht. Außerdem, sagt der Sprecher, habe man viele von ihnen schon "überführt und zur Anzeige gebracht."
Bei Arif Khan hat das nicht geklappt. Als der Zug in Landshut hält, ist er längst abgehauen. In der Früh steht er wieder am Bahnhof. 700 Kilometer Fahrt liegen vor ihm. Wie jeden Tag.