Geo-Risiken im Freistaat:Den Berg im Rücken

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Tausende Menschen in Bayern leben unter Überhängen oder an Felswänden. Das Risiko ist immer da. Sicherheit gibt es nicht.

Dominik Petzold, Karin Prummer und Christian Sebald

Ihr nächster Nachbar ist der Fels. Er ist hinter ihrem Haus, über ihrem Haus. Ein verlässlicher Nachbar. Doch wenn Ingrid Bauch-Glasel jetzt abends allein in der Stube sitzt, lauscht sie in die Stille. Knarzt da etwas? Rollt ein Stein? Schiebt der Fels nach? Sprengen die Wurzeln der Bäume Risse in den Stein? 70 Jahre ist Ingrid Bauch-Glasel alt, sie lebt mit dem Fels seit ihrer Geburt. Doch ihre Angst wächst. "Ich habe mir schon oft Gedanken um die Sicherheit gemacht, wenn ich aus dem Fenster schau." Und der Fels gibt ihr Recht. Im Jahr 1990 lag direkt vor ihrem Haus im kleinen Ort Wellheim bei Eichstätt ein Felsbrocken, Durchmesser: ein halber Meter. Er hätte sie erschlagen können. "Man sieht sogar noch, wo der Fels weggebrochen ist. Da hat's einen Rumms gemacht, meine Mutter ist rausgelaufen und da lag er vor der Tür."

Mitschüler der getöteten 18-jährigen Sophie kamen am Mittwoch zum Unglücksort in Stein an der Traun und stellten Kerzen und ein Foto auf - fast gleichzeitig begannen dort die Aufräumarbeiten. (Foto: Foto: dpa)

Da hilft nur Gottvertrauen

Die alte Dame wohnt ganz in der Nähe von Kirche und Pfarrheim in Wellheim - an dem Ende des Marktes, der noch nichteinmal durch einen Zaun gegen Steinschlag gesichert ist. Denn der Wald darüber gehört dem Staatsforst, nicht der Gemeinde. Bürgermeister Robert Husterer bleibt nichts anderes als Gottvertrauen: "Da besteht immer die Gefahr, dass was runterkommt", sagt er und schiebt lachend nach: "Aber den Pfarrer beschützt ja dann der liebe Gott." Und des Pfarrers Nachbarin Ingrid Bauch-Glasel hoffentlich auch.

Seit dem Felssturz von Stein an der Traun sind die Risiken von Murenabgängen und Steinschlag wieder ins Bewusstsein der Menschen gedrungen. Bayern ist ein felsiges Land. In Burghausen lehnt sich die Altstadt an den Burgberg, in Passau ragt die Veste Oberhaus steil auf über der Stadt. In Füssen, in Oberstdorf, in Immenstadt bestimmen die Berge das Stadtbild. In Franken haben die Menschen ihre Häuser oft direkt unter Felsüberhänge gebaut wie in Wellheim.

Immer wieder geraten die sicher geglaubten Felswände in Bewegung. Und die Menschen nehmen es hin wie sie schlechtes Wetter. "Dass kleinere Brocken, die bis zu einem Zentner wiegen, herunterkommen, kommt öfter vor", sagt Rainer Richter, der Bürgermeister von Kipfenberg in Oberbayern. Vor ein paar Jahren ist ein Fels über der nahen Staatsstraße abgegangen, ein Auto wurde getroffen, der Fahrer starb. Zweimal sind Felsen den Hang heruntergerollt und haben Häuser beschädigt. Einer durchschlug die Wand eines Fertighauses.

Kipfenbergs Bürgermeister setzt auf den Augenschein. "Wenn an einer Stelle auf einmal viele Steine runterkommen oder wo das öfter vorkommt, schauen wir nach", sagt er. In einem gefährdeten Ortsteil werden Marken gesetzt und man beobachtet, ob sich die Steine durch Wasser oder Frost bewegen. Aber das kostet. Vorbeugung belastet die Gemeinden und Landkreise, die dafür zuständig sind.

"Vor 20 Jahren gab es dafür noch erhebliche Zuschüsse vom Land. Da gibt's jetzt gar nichts mehr", sagt Bürgermeister Richter. Er stöhnt ein wenig. "Das ist eine ganz unrentable Sache. Darin könnten wir unser ganzes Geld vergraben." Dann lässt man die Felsen lieber rollen. Wie vor 100 Jahren. Da kam ein 40-Tonnen-Brocken vom Berg herab. Er liegt noch immer dort, wo er liebenblieg. In einem Bauernhof nahe der Staatsstraße.

Felsen überall

Pottenstein in der Fränkischen Schweiz ist von Fels umgeben. "Links, rechts, vorne, hinten, überall sind Felsen. Teilweise bis zu 60 Meter steil hoch", sagt Bürgermeister Stefan Frühbeißer. Der Felssturz von Stein an der Traun hat ihn an 2008 erinnert. Damals brach ein Fels aus einem massiven Teil des Pottensteiner Burgfelsens und stürtzte auf die Bundesstraße. "Zum Glück ist gerade niemand vorbeigefahren", sagt Frühbeißer. Er fragt jetzt immer bei den Geologen nach, wie akut sie eine Gefahr einschätzen. Die Antwort ist meist: "Der kann die nächsten fünf Minuten runterkommen oder die nächsten 50.000 Jahre oben bleiben."

Felssturz-Tod bei Traunstein
:Brocken so groß wie ein Bus

In Oberbayern hat ein Felssturz ein Haus dem Erdboden gleichgemacht und vier Menschen darunter begraben, zwei von ihnen starben. Experten rätseln, wie sich der Felsen lösen konnte. In Bildern

In Pottenstein begehen sie zwei- bis dreimal im Jahr den Fels, sie fahnden nach Rissen und losen Brocken. Außerdem setzt der Bürgermeister auf Hinweise von Kletterern und Bürgern. Allein Pottenstein gibt im Jahr einen fünfstelligen Betrag für die Sicherung der Hänge aus. "Die Kommunen können das eigentlich nicht leisten", sagt Frühbeißer. Allein dieses Jahr stehen zwei Projekte mit Kosten von 50.000 Euro an. 170.000 Euro hat alleine der Felssturz von 2008 gekostet. Es gab Diskussionen, wer das zahlen muss. Rein rechtlich muss der Eigentümer die Kosten tragen, das wäre in diesem Fall die Familienstiftung Burg Pottenstein gewesen.

(Foto: Foto: SZ Graphik, dpa)

Am Ende legten freiwillig Gemeinde, Oberfrankenstiftung, Landkreis und die Stiftung zusammen. Der Freistaat zahlte nichts, sagt der Bürgermeister. "Das war ärgerlich." Auch in Passau schauen sie regelmäßig nach. Spannen Netze über die Felsen, nageln die Felsen am Hang fest. "Ich denke, dass wir einiges einfach verhindern konnten", sagt Wolfgang Seiderer, Leiter des Tiefbauamts.

Überraschte Fachleute

Das Landesamt für Umwelt will bis 2011 besondere Gefahrenregionen kartieren. Mit hoch komplizierten Rechenmodellen ermitteln die Spezialisten sämtliche Regionen, die besonders gefährdet sind, auch wenn momentan kaum etwas darauf hindeutet. Die Ergebnisse überraschen selbst die Fachleute. Im Oberallgäu zum Beispiel herrschen auf 45 Prozent des Geländes geologische Gefahren, auf 26 Prozent sind Steinschläge und Felsstürze möglich und auf 30 Prozent können Muren abgehen. Natürlich sind viele der gefährdeten Gebiete unbesiedelt. Oft aber sind ganze Ortschaften bedroht: In Immenstadt donnerten vor vier Jahren 450.000 Kubikmeter Schlamm, Geröll und Felsbrocken vom Hausberg ins Tal. Dennoch hören vor allem Ortspolitiker und Investoren die Botschaft nicht gerne, vor allem wenn sie bauen wollen.

Leben mit der Natur

Die Gemeinde Schneizlreuth steht sogar vor Gericht, weil sie in einem gebirgsnahen Gebiet ein Bauvorhaben durchsetzen will. "Schneizlreuth West" liegt direkt unterhalb der steilen Hänge des Ristfeuchthorns im Berchtesgadener Land. Hans Weber, direkter Nachbar des geplanten Baugebiets, kämpft gegen die Pläne. Schon seine Gebäude und die der anderen Anlieger seien gefährdet, dann solle man nicht noch mehr dazu bauen. Schneizlreuths Bürgermeister Klaus Bauregger aber will dort bauen: "Uns ist Sicherheit wichtig, aber wir leben in den Bergen. 100 Prozent gehen nicht." Am geplanten Neubaugebiet sei noch nie etwas heruntergekommen.

Auch in Balderschwang im Oberallgäu stöhnt man wegen der Vorsicht der Experten. Während des Pfingstunwetters 1999 rutschte oberhalb des Allgäuer Ferienortes ein Hang ab. Seitdem wurden dort zwei Staumauern gebaut. Viel zu viel, sagt Bürgermeister Werner Fritz. "Heute ist eine hunderprozentige Sicherheit nicht mehr ausreichend, heute brauchen die Leute zweihundertprozentige Sicherheit", sagt er. "Bei uns im Ort ist das anders. Wir leben mit der Natur, wir leben mit Extremen. Balderschwang ist der schneereichste Ort Deutschlands. Vor der Natur kann man sich sowieso niemals völlig schützen."

© SZ vom 28.01.2010/juwe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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