Fall Peggy:Der lange Schatten der Ungewissheit

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Im Mai 2001 verschwindet die neunjährige Peggy. Mehr als ein Jahr danach gesteht ein 23-jähriger, geistig behinderter Mann, das Mädchen getötet zu haben. Später widerruft er sein Geständnis. Dennoch wird er verurteilt. Bis heute zweifeln viele an seiner Schuld. Jetzt will ein Anwalt die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen.

Hans Holzhaider

Am 7. Mai 2001 verschwand die neunjährige Peggy Knobloch aus Lichtenberg im Landkreis Hof, einem Ort mit etwas mehr als tausend Einwohnern unmittelbar an der früheren Grenze zur DDR. Mit Sicherheit wurde Peggy zuletzt gegen 13.15 Uhr auf dem Heimweg von der Schule gesehen. Vermisst wurde sie erst abends gegen 20 Uhr, als ihre Mutter von ihrer Arbeit als Altenpflegerin nach Hause kam. Eine außerordentlich aufwendige Suchaktion blieb ohne Erfolg. Weder Peggy noch ihr Schulranzen wurden jemals gefunden.

Eine Sonderkommission der Kripo ging Hunderten Spuren und Hinweisen nach. Als Spur Nummer zwei wurde Ulvi Kulac geführt, der 23-jährige Sohn eines türkischen Gastwirtsehepaars, das für den TSV Lichtenberg die Gaststätte auf dem Schlossberg führte. Ulvi Kulac, 1,75 Meter groß, 96 Kilo schwer, war nach einer im dritten Lebensjahr erlittenen Hirnhautentzündung deutlich minderbegabt. Er arbeitete für einen geringen Lohn in der Gaststätte der Eltern. In der Stadt war er als gutmütig bekannt und allgemein beliebt, er galt als eine Art Dorffaktotum. Aber Peggys Mutter hatte mitbekommen, dass ihre kleine Tochter sich gelegentlich bei Ulvi aufhielt, und sie hatte den Verdacht, Ulvi könnte etwas mit Peggys Verschwinden zu tun haben.

Konkrete Anhaltspunkte dafür ermittelte die Polizei zunächst nicht. Aber am 6. September 2001 wurde Ulvi Kulac festgenommen. Eine Frau hatte ihn beobachtet, wie er mit einem achtjährigen Jungen auf einer Bank saß, beide mit heruntergelassener Hose. Es stellte sich heraus, dass Ulvi Kulac im Verlauf der letzten beiden Jahre mehrere Buben sexuell missbraucht hatte. Schon bei seiner ersten Vernehmung erzählte Ulvi auch, Peggy Knobloch sei vier Tage vor ihrem Verschwinden in seiner Wohnung gewesen, er habe vor ihr onaniert und sie sexuell missbraucht. Beweise dafür, dass er etwas mit Peggys Verschwinden zu tun haben könnte, fand die Polizei auch jetzt nicht. Peggys Schicksal blieb im Ungewissen.

Im Februar 2002 wurde auf Betreiben des damaligen bayerischen Innenministers Günther Beckstein eine neue Sonderkommission Peggy eingesetzt. Deren Leiter, Kriminaldirektor Wolfgang Geier, verfolgte die Spur Ulvi Kulac mit besonderer Energie. Der junge Mann, mit einem IQ von 67 nahe an der Schwachsinnsgrenze, wurde viele Male vernommen; die Vernehmungsprotokolle füllen nach Angaben seines Anwalts mehr als 800 Seiten.

Am 2. Juli 2002 gestand Ulvi Kulac, er habe Peggy Knobloch getötet. Sein Vater habe die Leiche weggebracht, er wisse nicht, wohin. Peggy bleibt bis heute verschwunden. Am 30. April 2004 verurteilte das Landgericht Hof Ulvi Kulac wegen Mordes zu lebenslanger Haft. In zehn Fällen des sexuellen Missbrauchs wurde er freigesprochen, weil ein Sachverständiger ihn wegen seiner Minderbegabung und einer psychosexuellen Retardierung für schuldunfähig erklärt hatte. Wegen dieser Taten wurde er jedoch ins Bezirkskrankenhaus Bayreuth eingewiesen, wo er bis heute lebt.

In Lichtenberg aber gibt es viele, die Ulvi für unschuldig halten. Eine Bürgerinitiative wurde gegründet. Gudrun Rödel, Sekretärin in einem Anwaltsbüro, setzte sich mit besonderem Eifer für Ulvi ein. Sie ließ sich vom Gericht als Betreuerin bestellen, beschaffte sich die Ermittlungsakten und recherchierte auf eigene Faust. Schließlich beauftragte sie den Frankfurter Rechtsanwalt Michael Euler damit, einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vorzubereiten. Der sei nun, sagt Euler, fast fertig, im Lauf der nächsten Wochen soll er bei Gericht eingereicht werden.

Am 2. Juli 2002 kurz nach sieben Uhr holt der Kriminaloberkommissar Reiner Gröger Ulvi Kulac im Bezirkskrankenhaus Bayreuth ab und bringt ihn zur Vernehmung ins Polizeipräsidium. "Er war sehr nervös an diesem Tag, er wollte keine Vernehmung mehr", sagt Gröger später als Zeuge vor dem Landgericht Hof. Ulvi sei zunächst in Anwesenheit seines Verteidigers Wolfgang Schwemmer vernommen worden.

Die Vernehmungsbeamten glauben, ein neues, vielleicht entscheidendes Indiz gegen Ulvi in der Hand zu haben. Soko-Leiter Geier hat den Beamten telefonisch mitgeteilt, im Labor seien an der Arbeitsjacke, die Ulvi damals getragen hatte, Blutanhaftungen entdeckt worden. Aber diese Information ist falsch. Es war nur ein Verdacht, der sich nicht bestätigte. Eine verbotene Vernehmungsmethode? Nein, entscheidet später das Gericht. Es habe sich nicht um eine vorsätzliche Täuschung, sondern allenfalls um eine unbewusste Irreführung gehandelt.

Um 10.37 Uhr ist die Vernehmung beendet, ohne neue Ergebnisse. Rechtsanwalt Schwemmer verlässt das Polizeipräsidium, Ulvi wird zurück zum Auto gebracht. Dort spricht er mit dem Polizeibeamten Walter Henning. Der ist von der Polizei gezielt als Vertrauensperson für Ulvi aufgebaut worden, Ulvi nennt ihn "Henningvadder". Der Henningvadder, sagt Ulvi später vor Gericht, habe ihm gesagt, er solle die Wahrheit sagen, sonst sei er nicht mehr sein Freund. Der Polizeibeamte Gröger berichtet: "Henning hat mit Ulvi geredet. Ulvi muss ihm gesagt haben, er habe doch nicht alles gesagt. Daraufhin sind wir wieder hoch ins Vernehmungszimmer."

"Gedächtnisprotokoll"

In den folgenden 40 Minuten gesteht Ulvi, er habe Peggy Knobloch getötet. "Henning hat ihn befragt, ich war im Nebenraum und habe das Wesentliche mitgeschrieben", sagt Gröger aus. Ungeklärt bleibt, warum während der Vernehmung das Tonband nicht lief, obwohl es bei der vorausgegangenen Vernehmung benutzt worden war. Man habe den Verteidiger Schwemmer telefonisch benachrichtigt, dieser sei aber erst eingetroffen, als Ulvi sein Geständnis schon beendet habe.

Gröger fertigt nach seinen Aufzeichnungen ein Protokoll an, das mit "Gedächtnisprotokoll" überschrieben ist. Danach habe Ulvi folgende Darstellung gegeben: Er habe am Henri-Marteau-Platz auf Peggy gewartet, um sich für die "Vergewaltigung" am 3. Mai zu entschuldigen. Sie sei vor ihm weggelaufen, aber nicht in Richtung ihrer Wohnung, sondern auf einem Fußweg, der um den Schlossberg herum zur sogenannten Hermannsruh, einem Rastplatz im Wald unterhalb der Lichtenberger Burgruine führt.

Er sei ihr nachgelaufen. Als Peggy über einen Stein stolperte, habe er sie eingeholt. Sie habe am Knie und am Kopf geblutet. Er habe sie aufgehoben, Peggy habe sich umgedreht und laut geschrien, er solle abhauen. Sie habe auf den Boden gestampft. Sie habe gedroht, sie wolle ihren Eltern alles erzählen. Sie habe ihn dann so heftig "in die Eier getreten", dass er Sterne sah. Dadurch sei es ihr gelungen, sich loszureißen, sie sei weiter davongerannt, aber etwa am Fuß der Treppe, die hinauf zum Schlossplatz führt, erneut hingefallen. Deshalb habe er sie wieder einholen können.

Er habe ihr dann "eine geschmiert" und sie mit beiden Händen geschubst, dass sie wieder hinfiel. Sie habe laut um Hilfe gerufen. Er habe ihr dann mit einer Hand Mund und Nase zugehalten. "Dann hat sie die Augen zugemacht. Wie ich gesehen habe, dass sie sich nicht mehr rührt, habe ich aufgehört." Er habe dann erst mal eine Zigarette geraucht, den leblosen Körper an die Schlossmauer geschleift und ihn mit Zweigen abgedeckt. Anschließend habe er seinen Freund N. S. und dessen Freundin U. S. angerufen. Die beiden seien etwa nach 20 Minuten mit einem Auto gekommen. Sie hätten das Mädchen in den Kofferraum gelegt. Dann sei man nach Schwarzenbach am Wald gefahren, dort habe man Peggy in einem Waldstück unter einem Baum abgelegt und den Leichnam mit einer Plane zugedeckt.

Unmittelbar im Anschluss an das Geständnis fahren die Polizeibeamten mit Ulvi zu dem angeblichen Ablageort der Leiche, finden aber nichts. Dann fahren sie zurück nach Lichtenberg und führen Ulvi zum angeblichen Tatort, wo er an Ort und Stelle wiederholt, wie die Tat abgelaufen sei. Gröger sagte vor Gericht: "Er ist zielgerichtet auf einen Stein zugelaufen, wo das Mädchen gestolpert sei. Der Stein war nicht zu sehen, er war zugewachsen, aber er ist zielsicher darauf los."

Die Überprüfung der beiden Personen, die angeblich bei der Beseitigung der Leiche geholfen haben sollten, ergibt, dass beide ein hieb- und stichfestes Alibi für die mutmaßliche Tatzeit hatten.

Bei zwei weiteren Vernehmungen am 23. und 24. Juli (also volle drei Wochen später) wiederholt Ulvi seine Geständnis in allen Einzelheiten. Der Vernehmungsbeamte schildert vor Gericht, er habe Ulvi vorgehalten, der Abtransport der Leiche könne sich nicht so zugetragen haben, wie er es erzählt habe. Ulvi habe zwei bis drei Minuten still dagesessen, habe gezittert, auf seiner Stirn hätten Schweißperlen gestanden. "Dann hat er gesagt: Der Vati hat sie weg."

Eine weitere Woche später, am 30. Juli, führt die Polizei mit Ulvi vor laufender Kamera eine Tatrekonstruktion durch. Der Videofilm wird im Gericht vorgeführt. Ulvi berichtet zunächst, wie er wenige Tage vor der Tat Peggy sexuell missbraucht habe, schildert dann die Begegnung am Henri-Marteau-Platz, geht mit den Polizeibeamten den Weg ab, auf dem Peggy vor ihm davongelaufen sei.

Die Wegstrecke beträgt ungefähr 600 Meter, für einen sportlich untrainierten Mann von Ulvis Statur eine erhebliche Distanz. Ulvi demonstriert mit einer lebensgroßen Puppe, wie er Peggy erstickt habe - mit einer Hand am Genick, während er mit der anderen Nase und Mund zuhält. Auch bei dieser Gelegenheit zeigt er den moosbewachsenen Stein, über den Peggy bei ihrer Flucht gestolpert sei. Er erzählt, wie er nach der Tat die Treppe zum Schlossplatz hochgestiegen sei, wie er seinen Vater schlafend auf einer Bank in der elterlichen Wirtschaft angetroffen und ihn mit den Worten geweckt habe: "Vati, komm mit, ich hab die Peggy umgebracht."

Das Gericht beauftragt den Leiter des Instituts für forensische Psychiatrie an der Charité in Berlin, Hans-Ludwig Kröber, mit einem Gutachten über die Glaubwürdigkeit des Geständnisses, das Ulvi K. abgelegt hatte. Kröber kommt zu dem Ergebnis, dass Ulvis Geständnis mit hoher Wahrscheinlichkeit einen realen Erlebnishintergrund hat. Ulvi habe einen längeren Geschehensablauf konkret und mit vielen Details in schlüssigen räumlichen und zeitlichen Verknüpfungen dargestellt.

Er habe Einzelheiten geschildert, die, wenn er die Geschichte erfunden hätte, keine Funktion für den Geschehensablauf hätten, beispielsweise den Sturz über den Stein. Er habe ein psychologisch schlüssiges Motiv für die Tat angegeben. Seine Angaben seien über einen Zeitablauf von mehreren Wochen konstant geblieben. Dies alles sei bei der verminderten Intelligenz Ulvis nicht möglich, wenn die Darstellung nicht auf wirklichem Erleben beruhe.

Es gebe auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vernehmungsbeamten Ulvi einen bestimmten Ablauf suggeriert hätten, stellt Kröber fest. Bis zum Beginn des Geständnisses am 2. Juli habe die Polizei noch kein Tatszenario gehabt, das sie Ulvi hätte suggerieren können. Kröber weiß offensichtlich nichts von der Existenz einer "Tathergangshypothese", die als Ergebnis einer Besprechung der Soko Peggy 2 am 30. April 2002 von dem Profiler Alexander Horn aufgestellt worden war.

Keine Leiche, keine Spuren

Diese Hypothese kommt dem von Ulvi K. gestandenen Tatgeschehen sehr nahe: "Grund für die Eskalation könnte die Vergewaltigung der Peggy durch Ulvi im Vorfeld sein und er am 7. 5. 01 bei einer erneuten Kontaktaufnahme eine Überreaktion auf ihre Flucht vor ihm zeigte, wobei eine Einwirkung auf den Hals aufgrund von Schreien der Peggy nicht auszuschließen ist. Bei der Beseitigung der Leiche wirkten (noch) weitere Personen (evtl. enges familiäres Umfeld des Ulvi) mit."

Die verschiedenen Geständnisse, die Tatrekonstruktion und das Glaubwürdigkeitsgutachten sind die wesentlichen Säulen, auf denen das Urteil des Landgerichts Hof ruht. Erdal Kulac, Ulvis Vater, machte vor Gericht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Andere positive Tatnachweise gibt es nicht. Es gibt keine Leiche, es gibt keinerlei objektive Spuren etwa an Ulvis Kleidung oder an dem Auto, mit dem Peggys Leiche angeblich beseitigt wurde.

Man muss dabei berücksichtigen, dass diese Spurensicherungen erst über ein Jahr nach der mutmaßlichen Tat durchgeführt wurden - die in Frage kommenden Kleidungsstücke wurden zwischenzeitlich mehrmals gewaschen, ein Auto kann man gründlich reinigen. Trotzdem ist ein Geständnis, und sei es noch so konkret und detailreich, für sich genommen ein sehr unsicheres Fundament für ein Urteil - Fälle wie der des Bauern Rupp, der angeblich von seiner Familie erschlagen, zerstückelt und den Hunden zum Fraß vorgeworfen, dann aber ganz unzerstückelt aus der Donau gezogen wurde, haben das in jüngster Zeit eindrucksvoll bewiesen.

"Weil ich's nicht gewesen bin"

Ulvi Kulac rückte zum ersten Mal während der Exploration durch den Sachverständigen Kröber von seinem Geständnis ab. Ihm sagte Ulvi am 10. September, was er der Polizei gesagt habe, sei gelogen gewesen. Förmlich widerrief Ulvi sein Geständnis erst bei zwei Vernehmungen am 10. Januar und 3. Februar 2002. Dabei blieb er auch in der Hauptverhandlung. Auf die Frage des Gerichts, warum er ein falsches Geständnis abgelegt habe, sagte Ulvi: "Weil ich meine Ruh' haben wollte vor der Kripo. Ich hab' gedacht, dass die dann zufrieden sind. Dass die mich nicht mehr holen."

Auf die Frage des Staatsanwalts, ob er sein Geständnis auch vor anderen wiederholt habe, sagte Ulvi: "Meinem Rechtsanwalt." "Wem noch?", fragte der Staatsanwalt. "Meiner Schwester." Und warum habe er das Geständnis dann widerrufen? "Weil ich's nicht gewesen bin." Und warum habe er erzählt, der Vater habe die Leiche weggebracht? "Die haben gesagt, es muss jemand aus der Familie gewesen sein."

Dass er Peggy wenige Tage vor ihrem Verschwinden sexuell missbraucht hatte, widerrief Ulvi nicht. Diese Tat schilderte er, mit geringen Abweichungen von seiner früheren Aussage, auch in der Hauptverhandlung.

In der Urteilsbegründung des Landgerichts Hof heißt es, die Jugendkammer sei "zweifelsfrei davon überzeugt", dass Ulvis Geständnisse trotz des Widerrufs glaubhaft seien. Auch das Gericht konnte aber nicht darüber hinwegsehen, dass es eine Reihe von Umständen gab, die Zweifel an der Richtigkeit des Geständnisses erweckten, und es bemühte sich nach Kräften, diese Zweifel zu zerstreuen.

Peggy wurde nach Überzeugung des Gerichts am Tag ihres Verschwindens im Zeitraum von 13.15 bis 13.20 Uhr zum letzten Mal lebend gesehen. Die Zeugin Birgit R. gab an, sie sei an diesem Tag mittags bei ihren Eltern in der Nailaer Straße zum Essen gewesen. Sie habe das Haus um 13.15 Uhr verlassen und habe Peggy auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Richtung Henri-Marteau-Platz gehen sehen. Der Vater der Zeugin bestätigte das: Er habe aus dem Fenster im ersten Stock seiner Tochter nachgeschaut, und habe ebenfalls Peggy gesehen, die an der Friedhofsmauer entlangging.

Die Schülerin Helen C., die Peggy aus der ersten Grundschulklasse kannte, sagte aus, sie sei mit dem Schulbus von Naila gekommen und habe aus dem Bus heraus Peggy gesehen. Sie habe sie an ihren blonden Haaren und ihrem auffallenden Schulranzen erkannt. Der Fahrer des Schulbusses erklärte vor Gericht, der Bus sei, je nach Verkehrslage, zwischen 13.15 und 13.20 Uhr am Henri-Marteau-Platz gewesen. Allerdings gab Helen C. an, Peggy habe sich zu diesem Zeitpunkt am Marktplatz in der Höhe Kirchgasse befunden. Das würde bedeuten, dass Peggy den Henri-Marteau-Platz, auf dem sie angeblich auf Ulvi Kulac getroffen sein soll, schon überquert hatte. Das Gericht geht in der Urteilsbegründung über diese Diskrepanz großzügig hinweg, indem es feststellt, Helen C. habe Peggy "in diesem Bereich" gesehen.

Immerhin scheint durch diese Zeugenaussagen gesichert zu sein, dass Ulvi nicht vor 13.15 mit Peggy zusammengetroffen sein kann. Andererseits bekundeten zwei Zeugen, sie seien zwischen 13.15 und 13.30 Uhr beziehungsweise zwischen 13.30 und 13.40 Uhr mit Ulvi zusammengetroffen. Wenn das richtig wäre, hätte Ulvi mit Sicherheit keine Zeit gehabt, Peggy über 600 Meter nachzulaufen, sie zu töten und sich anschließend um die Beseitigung der Leiche zu kümmern. Das Gericht kam zu dem Schluss, beide Zeugenaussagen seien falsch - ob sie auf einem Irrtum beruhten oder vorsätzlich falsch waren, ließ das Gericht dahingestellt.

Der erste Zeuge, Hilmar K., gab an, er habe Ulvi zwischen 13.15 und 13.30 Uhr am Städtischen Bauhof in der Poststraße gesehen. "Er hat rübergeschrien, ich soll anhalten, er hat was von seiner Mutter zum Essen an die Haustür gehängt", sagte der Zeuge. "Ich fuhr heim, da hing eine Plastiktüte an der Haustür mit einer Porzellanschüssel drin." Bei einer polizeilichen Vernehmung im April 2002 hatte er allerdings gesagt, er könne sich nicht mehr an die Uhrzeit erinnern, es könne auch erst gegen 15 Uhr gewesen sein. Außerdem hatte die Polizei am

30. Mai 2002 ein Telefongespräch zwischen Ulvis Mutter und seiner Schwester Heike abgehört. Darin erzählte die Mutter ihrer Tochter, Hilmar K. habe sie gefragt, wann er Ulvi getroffen habe - er müsse am nächsten Tag wieder zur Kriminalpolizei. Daraus, folgerte das Gericht, ergebe sich zweifelsfrei, dass Hilmar K. als Zeuge die Unwahrheit gesagt habe und in Wirklichkeit nicht wisse, wann er Ulvi gesehen habe.

"Teils widersprüchliche Angaben"

Der zweite Zeuge, Dieter T., gab an, Ulvi sei zwischen 13.30 und 13.45 zu ihm zum Holzmachen gekommen. An dieser Aussage kam das Gericht nicht so leicht vorbei. T. hatte schon bei einer polizeilichen Vernehmung am 2. Juli 2001, also nur etwa zwei Monate nach Peggys Verschwinden, dieselbe Uhrzeit angegeben. Allerdings hatte er damals gesagt, er habe mit der Arbeit auf Ulvi gewartet. Als Zeuge im Prozess sagte er, er könne sich deshalb so genau an die Uhrzeit erinnern, weil er schon um 13 Uhr mit der Arbeit begonnen habe, und weil er, als Ulvi kam, schon vier Fuhren gesägtes Holz gefahren habe. Für jede Fuhre brauche er etwa zehn Minuten, also müsse es bei Ulvis Eintreffen etwa 13.40 Uhr gewesen sein.

Aufgrund dieser "teils widersprüchlichen, teils nur geschlussfolgerten Angaben" war das Gericht überzeugt, dass der Zeuge T. den Zeitraum, in dem Ulvi zu ihm kam, frei erfunden habe. Wolfgang Geier, der Soko-Leiter, mutmaßte in seiner Zeugenaussage unverblümt, T. habe als Freund der Familie Kulac Ulvi zu einem Alibi verhelfen wollen.

Alle Überlegungen hinsichtlich eines "Zeitfensters" wären indes hinfällig geworden, wenn es einen eindeutigen Beweis dafür gegeben hätte, dass Peggy am Tag ihres Verschwindens nach 15 Uhr noch lebend gesehen wurde. Und an Zeugen, die das behaupteten, mangelt es nicht. Im Urteil des Landgerichts Hof werden allein fünf Zeugen aufgeführt - alles Kinder und Jugendliche, die Peggy kannten - die ausgesagt hatten, dass sie Peggy am Nachmittag oder frühen Abend des 7. Mai 2001 in Lichtenberg gesehen hätten. Das Gericht glaubte keinem von ihnen.

Patrick G. hatte nur einen Tag nach Peggys Verschwinden erzählt, er habe Peggy zwischen 18 und 19 Uhr gesehen, als er auf dem Weg zum Training war. Peggy habe keinen Schulranzen, aber einen blau-silberfarbenen Roller dabeigehabt. Das Gericht befand, Patrick müsse ein anderes Mädchen gesehen haben. Erstens sei er sich am nächsten Tag - dem 9. Mai - schon nicht mehr so sicher gewesen, ob er Peggy gesehen habe. Zweitens sei Peggys Roller nach Aussagen der Mutter nur silbern, nicht blau gewesen, drittens sei nicht zu erklären, wo Peggys Schulranzen hingekommen sein sollte - er wurde weder bei ihr zu Hause noch sonst irgendwo in Lichtenberg gefunden.

Kann nicht sein, entschieden die Richter

Auch dem Zeugen Paul W. hielten die Richter widersprüchliche Aussagen vor. Er hatte am 9. Mai ausgesagt, er habe Peggy am Nachmittag in Begleitung eines kleineren Mädchens gesehen, eine Woche später sagte er, Peggy sei allein unterwegs gewesen. Damals wollte er nicht ausschließen, dass es sich auch um ein anderes Mädchen gehandelt haben könnte, in der Hauptverhandlung sagte er, er sei sich ganz sicher, dass er Peggy gesehen habe. Das genügte dem Gericht, um "zweifelsfrei" auszuschließen, Paul W. habe tatsächlich Peggy gesehen.

Der 15-jährige Robert W., von dem die Polizei damals notierte, er mache einen "sehr sicheren und vernünftigen Eindruck", war sich ganz sicher, Peggy zwischen 15 und 15.30 Uhr am Stadtbrunnen beim Rathaus gesehen zu haben. Ihm glaubte das Gericht nicht, weil Peggys Mutter erklärte, sie habe abends, als sie nach ihrer verschwundenen Tochter suchte, Robert W. nach Peggy gefragt, und dieser habe geantwortet, er sei Peggy nicht begegnet.

Schließlich waren da noch Alexander K. und Jan K., die beide bezeugten, sie hätten Peggy zwischen 16 und 17 Uhr in der Bäckerei am Henri-Marteau-Platz gesehen. Kann nicht sein, entschieden die Richter, denn die Bäckereiverkäuferin Sabine B. habe "glaubhaft bekundet", sie habe Peggy an diesem Nachmittag nicht in der Bäckerei gesehen. Es könne zwar sein, dass sie vorübergehend nicht im Verkaufsraum war, aber dann hätte sie auf jeden Fall die Glocke gehört, wenn jemand den Laden betritt, und wäre dann sofort in den Verkaufsraum gegangen.

So viele Zeugen, und alle sollen sich geirrt haben? Man kann sich, wenn man dieses Urteil liest, des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Gericht schon mit einer ziemlich fest gefügten Überzeugung in die Verhandlung gegangen ist, und dass es eine deutliche Tendenz zeigte, alles zu glauben, was zu dieser Überzeugung passt, und alles zu verwerfen, was nicht dazu passt. Andere Gerichte entscheiden in vergleichbaren Fällen anders. Zum Beispiel das Landgericht Saarbrücken im Fall Pascal - eine Geschichte, die einige Parallelen zum Fall Peggy aufweist. Auch der fünfjährige Pascal verschwand spurlos, bis heute wurde keine Leiche gefunden. Hier gab es gleich mehrere Angeklagte, allesamt geistig auf ähnlichem Niveau wie Ulvi Kulac, die detaillierte Geständnisse ablegten, sie sogar vor Gericht wiederholten, und erst im Laufe des sehr langen Verfahrens widerriefen. Sie wurden alle freigesprochen - nicht, weil das Gericht von ihrer Unschuld überzeugt war, sondern weil es die widerrufenen Geständnisse nicht für ausreichend beweiskräftig hielt. Der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" gilt eben nur, wenn das Gericht tatsächlich Zweifel hat. Das Landgericht in Hof war offensichtlich fest entschlossen, keine Zweifel zu haben.

Bei den Lichtenbergern und ihren Unterstützern, die an Ulvis Unschuld glauben, kann man ähnliche Tendenzen beobachten, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Sie blenden alles aus, was für Ulvis Täterschaft spricht, und sammeln mit großem Eifer alles, was Zweifel an seiner Schuld weckt.

Aber eine Wiederaufnahme des Verfahrens lässt sich mit Zweifeln allein nicht erkämpfen. Dazu bedarf es Tatsachen, und nicht nur das: Das Gesetz verlangt "neue Tatsachen oder Beweismittel, die (. . .) geeignet sind, die Freisprechung des Angeklagten zu begründen". "Neue" Tatsachen heißt: Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren und deshalb bei der Entscheidung nicht berücksichtigt werden konnten. Gibt es solche Tatsachen?

Eine gibt es auf jeden Fall: Der Zeuge Peter H., der im Prozess gegen Ulvi ausgesagt hatte, der Angeklagte habe ihm die Tat gestanden, hat seine Aussage widerrufen. Peter H. saß zusammen mit Ulvi im Bezirkskrankenhaus Bayreuth ein. Im September 2010, also mehr als sechs Jahre nach dem Urteil, gab Peter H. eine eidesstattliche Versicherung ab, dass er damals gelogen hatte.

Ulvi habe ihm die Tat nicht gestanden. Er sei von der Polizei bedrängt worden, eine entsprechende Aussage zu machen. Man habe ihm dafür die Freiheit versprochen. Die Staatsanwaltschaft prüfte, ob das Verfahren gegen Ulvi von Amts wegen wieder aufgenommen werden müsse und kam zu dem Schluss: Es muss nicht. Denn die Aussage von Peter H. habe bei der Urteilsberatung nur eine ganz untergeordnete Rolle gespielt. Ulvi wäre ohne Zweifel auch ohne den Zeugen H. verurteilt worden.

Ulvis Rechtsanwalt Euler sieht das anders: Niemand, sagt er, könne wissen, wie die Aussage des Peter H. das Bewusstsein der Richter geprägt habe: "Die Staatsanwaltschaft muss beweisen, dass diese Aussage nicht kausal für das Urteil war. Das kann sie nicht."

Zweiter Ansatzpunkt für ein Wiederaufnahmeverfahren: Die vielen Zeugen, die Peggy noch nach ihrer angeblichen Ermordung gesehen haben wollen. Der Reihe nach zerpflückt Euler die Begründungen der Richter, warum sie diesen Zeugen nicht glauben wollten:

Patrick G., der Peggy mit einem silberblauen Roller gesehen hatte - bei den Akten sei ein Foto von Peggys Roller, und dieser sei tatsächlich silberblau, nicht silbern, wie Peggys Mutter angegeben hatte: "Sie hat insoweit falsch ausgesagt", sagt Euler.

Robert W., der angeblich zu Peggys Mutter gesagt hatte, er sei Peggy nicht begegnet: Hier handele es sich offensichtlich um eine Verwechslung. Peggys Mutter habe in Wirklichkeit nicht Robert W., sondern einen anderen Jungen befragt, beide würden das heute bezeugen.

Die beiden Buben, die Peggy in der Bäckerei gesehen haben wollten: Die Bäckereiverkäuferin werde bei einer neuerlichen Vernehmung sicher nicht ausschließen können, dass sie die Kinder vielleicht doch nicht bemerkt habe, wenn sie sich selbst gerade in der Backstube aufhielt.

Aber ob das alles als "neue Tatsachen" zählt? Oder doch nur als neue Interpretation längst bekannter Tatsachen?

Einen Pfeil hat Rechtsanwalt Euler noch im Köcher, und der könnte sich als der schärfste erweisen: Zwei Buben, damals neun Jahre alt, die angaben, sie hätten beobachtet, wie Peggy gegen 15 Uhr vor der Bäckerei in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen stieg. Ein Mann habe am Steuer gesessen, auf dem Rücksitz habe noch ein anderes, etwa zehn Jahre altes Mädchen gesessen.

Jörg D. und Steffen R. machten diese Aussage wenige Tage nach Peggys Verschwinden. Aber vier Wochen später, am 11. Juni, hält die Polizei in zwei Aktenvermerken fest: Jörg D. und Steffen R. seien jeweils im Beisein ihrer Mutter erneut befragt worden und hätten erklärt, sie hätten sich das alles nur "irgendwie zusammengereimt", das sei in der Schule so erzählt worden, sie hätten Peggy an diesem Nachmittag überhaupt nicht gesehen. Damit war der Fall für die Polizei erledigt. In der Urteilsbegründung des Landgerichts werden diese beiden Jungen mit keiner Silbe erwähnt.

Diese Aktenvermerke, sagt Euler, seien aber falsch: "Ich habe mit den Müttern gesprochen, die wussten nichts von diesem Widerruf. Sie waren nicht mit bei der Polizei." Die beiden Buben, inzwischen junge Männer, hätten ihm erzählt, sie seien damals alleine bei der Polizei gewesen. Man habe ihnen vorgehalten, man wisse, dass sie gelogen hätten, der jeweils andere habe schon alles gestanden. Daraufhin hätten sie Angst bekommen und so ausgesagt, wie die Polizei das gewollt habe. Aber die Wahrheit sei, dass sie Peggy tatsächlich an jenem Nachmittag beobachtet hätten, wie sie in das rote Auto einstieg.

© SZ vom 07.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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